Spuren der Individualisierung in englischen Staatstheorien des 17. Jahrhunderts: James Harrington und John Locke

Nom de l'auteur
Michael
Gautier
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Peter
Blickle
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2002/2003
Abstract

‚Individualisierung’ ist in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem der schillerndsten zeitdiagnostischen Begriffe geworden. Mit ihm verknüpft ist der umstrittene Anspruch, unterschiedlichste gesellschaftliche Phänomene in den hochindustrialisierten Ländern des späten zwanzigsten Jahrhunderts auf einen Nenner zu bringen. Individualisierung als „entscheidenden Grundzug der werdenden Moderne“ (van Dülmen) einzuschätzen, ist in der Geschichtsschreibung zum common sense avanciert. Die in modernen Gesellschaften verbreitete Vorstellung von Individualität als Subjektivität, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ist als solche jedoch nicht auf die Vormoderne übertragbar.

 

Da Individualisierung keinen linear fortschreitenden Prozess, sondern einen vornehmlich schichtspezifisch differierenden Wandel benennt, lässt sie sich mittels empirisch viel eher fassbaren ‚Individualisierungsschüben’ in Ansätzen beschreiben. Die Renaissance (Burckhardt) mit ihrer „Anthropologisierung der Weltsicht“ (van Dülmen) und die Reformation mit ihrem radikalen religiösen Individualismus (Troeltsch, Weber) gelten als die beiden Fundamentalvorgänge zu Beginn der Neuzeit, die solche Schübe hervorgerufen haben.

 

England noch vor der Aufklärung als einen Raum zu betrachten, der für die Individualisierung besonders prädisponiert war, legen ökonomische, gesellschaftliche und politische Entwicklungen nahe, die im 17. Jahrhundert insofern konvergierten, als Individuen sich als relevante Akteure zu manifestieren begannen oder als solche thematisierbar wurden – als ungeachtet ihrer Herkunft ökonomisch erfolgreiche, sich diesen Erfolg selbst erarbeitende Menschen und ansatzweise als Träger politischer Rechte.

 

Gegenstand der Lizentiatsarbeit ist zunächst die staatsbürgerliche Dimension der Individualisierung. Ihr zugrunde gelegt sind zwei politiktheoretische Beiträge, deren Autoren auf Argumentarien zurückgreifen, die auf das Engste mit der säkularen Neudefinition des neuzeitlichen Individuums assoziiert sind. The Commonwealth of Oceana von James Harrington steht in der Tradition republikanischer Theorien; die in John Lockes Two Treatises of Government entworfene Staatsphilosophie gehört zu jener des modernen, profanen Naturrechts.

 

Operationalisieren lässt sich Individualisierung mit dem ‚Individualisierungsmoment’, das Erscheinungen bezeichnet, welche die Bedeutung des Einzelnen gegenüber der Gruppe hervorheben, seine Definition über die Gruppe aufweichen oder gar aufheben. Ein solches ist dann gegeben, wenn individuelle Rechte formuliert werden, individuell zuschreibbare Eigenschaften (z.B. Leistung) ausschlaggebend für die Positionierung der Menschen im Staatsgebilde sind und im äussersten Fall die Verfolgung individueller Interessen positiv bewertet wird. Individualisierungsmomente sind bei Harrington und Locke in den Konzeptionen von Eigentum und Arbeit, Freiheit, Vertrag sowie Vernunft und Tugend enthalten.

 

Den Ausgangspunkt beider Autoren bildet ‚das Haus‘. In beiden Theorien wird nur Hausvätern die Fähigkeit attestiert, Individualität zu entwickeln, genauso wie in beiden Fällen das Gemeinwohl den ethischen Rahmen für das individuelle Handeln abgibt. Für Harrington ist es die Existenz des Freistaats, für Locke die Erhaltung der menschlichen Gattung. Geht man von den Hausvätern als staatstheoretisch definierten Individuen aus, sind Aussagen über den Charakter des Individualismus möglich, der in den beiden Entwürfen angelegt ist. Harrington formuliert in The Commonwealth of Oceana einen vorwiegend politischen Individualismus, in den Two Treatises of Government von Locke äussert sich dagegen ein vornehmlich gesellschaftlicher Individualismus.

 

Politisch ist Harringtons Individualismus, da individuelle Freiheit einzig im Staatsbürger verkörpert und maximal ausgebildete Individualität nur über eine politische Laufbahn realisierbar ist. Das Haus ist zunächst die ‚entindividualisierende’ Erziehungsanstalt, welche die sittliche Individuierung als Emanzipation vom Elternhaus zum Ziel hat. Dem mündigen Staatsbürger wiederum garantiert es die zu seiner individuellen Vervollkommnung im Dienst der Republik nötige Abkömmlichkeit. Diese ist an sich bereits der gesellschaftliche Ausweis dafür, dass der Betreffende „die Tugend zum Individuum“ hat. Das Bedürfnis nach individueller Bewährung und entsprechender gesellschaftlicher Anerkennung (Ruhm) soll im politischen (tugendhaften) Handeln zugunsten des gemeinen Nutzens befriedigt werden, in der Verschränkung von Individualismus und Gemeinwohl.

 

Gesellschaftlich, folglich umfassender und radikaler ist Lockes Individualismus, da die von ihm gedachten Individuen, unabhängig davon, ob sie sich im Naturzustand befinden oder Mitglieder einer politischen Gemeinschaft sind, ausschliesslich über Arbeit und dadurch kraft gesellschaftlicher Differenzierung Individualitätspotentiale ausschöpfen können. Ein so konkretes Gemeinwohl wie die Integrität eines republikanischen commonwealth existiert bei Locke nicht. So umfassend und abstrakt dieses ist (die Erhaltung der Menschheit), so sehr ist das Individuum als einzelnes (oder geradezu vereinzelt) in die Pflicht genommen. Dem Lockeschen Arbeitsethos fehlt der Gemeinsinn Harringtons. Gott belohnt schlicht und einfach die Tüchtigen. Staatsbürger ist der Mensch nur im Hinblick auf die Sicherung der eigenen Subsistenz. Vernunft und Tüchtigkeit sind die einzige Voraussetzung für Individualität, welche unabhängig von der Art der Vergemeinschaftung möglich ist. Das Recht auf Eigentum bleibt auch über den durch einen Gesellschaftsvertrag in Kauf genommenen Verlust an Autonomie hinaus bestehen.

 

Harringtons Individuum ist das Produkt der politischen Vergemeinschaftung. Dagegen tendiert das Individuum von Locke angesichts eben dieser Vergemeinschaftung dazu, seine Individualität unablässig gegen die civil society zu behaupten.

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