Selbstüberwachende Gesellschaft: Zur Theorie und Praxis einer Überwachungsgeschichte am Beispiel des Nationalsozialismus

Nom de l'auteur
Samuel
Zahnd
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
PD Dr. phil
Daniel Marc
Segesser
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2018/2019
Abstract
Die vorliegende Masterarbeit in Neuester Geschichte befasst sich mit den theoretischen Grundlagen einer neueren geschichtswissenschaftlichen Forschungsperspektive, der Überwachungsgeschichte. Sie argumentiert in Anlehnung an die Surveillance Studies sowie anhand von Foucaults Analytik der Macht für einen breiten überwachungsgeschichtlichen Ansatz und skizziert dessen Anwendungsmöglichkeiten am Beispiel der Überwachung im Nationalsozialismus. Ausgangspunkt ist die in den frühen 1990er Jahren innerhalb der Denunziationsforschung kontrovers diskutierte These Gellatelys, wonach die deutsche Bevölkerung im Nationalsozialismus angesichts der beträchtlichen Mitwirkung von unten am Funktionieren der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) eine selbstüberwachende Gesellschaft gewesen sei. Den daraus ableitbaren Fragen, einerseits nach dem Funktionieren von Überwachung in modernen Gesellschaften im Allgemeinen sowie im Nationalsozialismus im Speziellen, und andererseits nach den theoretischen Grundlagen einer Untersuchung von historischen Überwachungspraktiken wurde in drei aufeinander aufbauenden Schritten nachgegangen. Zunächst diskutiert die Arbeit den aktuellen Forschungsstand der sozialwissenschaftlichen Surveillance Studies hinsichtlich überwachungstheoretischer Überlegungen und Konzepte. Einerseits geht es darum, die für den Ansatz der Arbeit notwendigen Definitionen von Überwachung und Selbstüberwachung sowie eine Abgrenzung zum Begriff der sozialen Kontrolle herauszuarbeiten. Andererseits argumentiert die Arbeit mit Blick auf die Aspekte, die eine überwachungsgeschichtliche Untersuchung in Betracht ziehen kann, für eine Erweiterung des gängigen analytischen Blickwinkels auf Überwachungen von oben (durch Staat, Wirtschaft und Wissenschaft mit ihren jeweiligen technologischen Möglichkeiten) um Praktiken der Überwachung unter Gleichberechtigten und Praktiken der Selbstüberwachung. Demgemäss soll Überwachungsgeschichte danach fragen, wo konkret eine mehr oder weniger systematische und routinemässige Überwachung im Sinne eines zielgerichteten Beobachtens und bewussten Überprüfens anderer Personen, seiner selbst oder der Umwelt stattfindet, wer konkret der überwachende Akteur ist, wer oder was konkret das Objekt der Überwachung ist und wie konkret überwacht wird. Des Weiteren gilt es, wo möglich die Motivationen, den Antrieb, die Ziele, das War- um hinter einer konkreten Überwachungspraxis zu erschliessen: Wird überwacht, um zu beeinflussen, zu verwalten, zu schützen oder um zu führen? Nicht zuletzt ist nach allfälligen Konsequenzen der Überwachung zu fragen, also was konkret die Auswirkungen auf die überwachte Person respektive das überwachte Phänomen sind. Dieser Untersuchungsrahmen wurde sodann im Zuge einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Foucaults Machtanalytik im zweiten Teil auf ein umfassenderes theoretisches Fundament gestellt. Hierbei argumentiert die Arbeit dafür, dass unter anderem der relationale Charakter des Machtbegriffs bei Foucault, die Ausdifferenzierung verschiedener Machttypen (Souveränitätsmacht, Disziplinarmacht, Bio-Macht) und Machttechniken (hierarchische Überwachung, normierende Sanktion, Prüfung, panoptischer Blick etc.) oder die Zweidimensionalität des Regierungsbegriffs (Regierung anderer und Regierung des Selbst) in vielerlei Hinsicht konstruktives Erklärungs- und Erkenntnispotential für den vorgeschlagenen überwachungsgeschichtlichen Ansatz bieten. In einem dritten Schritt wurde der Theorieteil einem Praxistest unterzogen. Als Möglichkeit einer Anwendung des Ansatzes im Rahmen einer Überwachungsgeschichte wählte der Autor das Beispiel des Nationalsozialismus. Im Zentrum der praktischen Untersuchung stand hierbei die Literatur zur NS-Denunziationsforschung, die um eine Reihe relevanter Ergebnisse und möglicher Ansatzpunkte aus der NS-Widerstandsforschung und aus den aktuellen Untersuchungen zur «Volksgemeinschaft» ergänzt wurde. Anhand der Überwachungspraxis der «Blockwarte», die als unterste Ebene des enormen Parteiapparats der NSDAP eine Schnittstellenfunktion zwischen Regime und Gesellschaft einnahm, wur- de schliesslich das komplexe Zusammenspiel unterschiedlicher Überwachungspraktiken im Nationalsozialismus skizziert. Überwachung im NS-Regime erscheint in diesem breiten analytischen Blickwinkel nicht allein als herrschaftssicherndes Instrument von oben, sondern vielmehr als komplexes systemisches Wechselspiel zwischen Überwachungspraktiken des Regimes, der Menschen untereinander und individueller Selbstüberwachung. Es verbleiben zahlreiche Ansatzpunkte für weiterführende Untersuchungen hinsichtlich einer NS-Überwachungsgeschichte, die nur grob oder gar nicht nachgezeichnet werden konnten, sowie die weitere Erprobung des Ansatzes in anderen historischen Kontexten. Jede Gesellschaft ist eine selbstüberwachende Gesellschaft. Die Frage ist dabei primär, wie diese Überwachung genau funktioniert.

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