infoclio.ch-Tagung 2025: Open Science in History. Öffnung der Wissenschaften von der Aufklärung bis zur künstlichen Intelligenz

Auteur du rapport
Yann
Stricker
Koordination Zentrum Digitale Editionen und Editionsanalytik (ZDE), Universitätsbibliothek Zürich
Citation: Stricker Yann: « infoclio.ch-Tagung 2025: Open Science in History. Öffnung der Wissenschaften von der Aufklärung bis zur künstlichen Intelligenz », infoclio.ch Tagungsberichte, 22.12.2025. En ligne: <https://www.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0405>, consulté le 22.12.2025

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Bereits der Tagungstitel machte klar, dass es infoclio.ch und OpenEdition Lab mit ihrer Veranstaltung nicht nur um die Umsetzung von Open Science in den Geschichtewissenschaften ging, sondern auch um das Konzept der offenen Wissenschaften und dessen historische Tragweite.1 Die Tagung sollte, wie Co-Organisator SIMON DUMAS PRIMBAULT (Paris) betonte, Raum bieten für eine kritische Reflexion und die historische Kontextualisierung von Open Science. FRANÇOIS VALLOTTON (Lausanne) betonte in seinem Grusswort die Ambivalenz von Open-Science-Bestrebungen, die Offenheit und Zugänglichkeit förderten, gleichzeitig jedoch auch Logiken der Verwertung von Forschungsresultaten durch kommerzielle Unternehmen Vorschub leisteten. Co-Organisator ENRICO NATALE (Bern) wies auf die Dringlichkeit hin, die diese Fragen gerade im Kontext der Entwicklungen grosser Sprachmodelle erhalten hätten.

Im ersten Vortrag stellte sich MARIA CHIARA PIEVATOLO (Pisa) kritisch gegen ein «administratives Modell» von Open Science, das bloss auf eine Abmilderung von Wissensmonopolisierung und Zwängen bibliometrischer Wissenschaftsevaluation hinwirke, an den strukturellen Entwicklungen, die einer offenen Wissenschaft entgegenlaufen, jedoch nichts ändere. Dem stellte Pievatolo ein «subversives Modell» gegenüber, das auf einer Idee von Urheberrecht ohne Recht auf geistiges Eigentum aufbaut (Immanuel Kant) und die Autonomie sowie die grundsätzliche Ergebnisoffenheit der Wissenschaften ins Zentrum stellt (Alexander von Humboldt). Bei der Gewährleistung der wissenschaftlichen Autonomie komme den Universitäten eine Schlüsselrolle zu. Wie Pievatolo mit Bezug auf Humboldt betonte, würden sich Universitäten mit dieser Aufgabe jedoch in einem schon länger währenden Spannungsfeld zu staatlichen Kategorien wie Berechenbarkeit und Steuerbarkeit befinden – was sich gerade im Falle von Open Science besonders deutlich zeige.  

Auch der zweite Vortrag thematisierte Diskussionen um offene Wissenschaften in der Frühen Neuzeit. Mit Blick auf den Medienwandel in der wissenschaftlichen Kommunikation von einer handschriftlichen Briefkultur hin zur Entstehung und Verbreitung gedruckter Zeitschriften zwischen 1660 und 1800 führte CLAIRE GANTET (Fribourg) aus, wie sich das Verständnis von Wissenschaft in einer sich öffnenden Praxis der wissenschaftlichen Kommunikation selbst erweiterte, aber auch herausgefordert wurde. Anonym verfasste Rezensionen wurden genutzt, um Ideen in Umlauf zu bringen, und schufen damit am Übergang zum 18. Jahrhundert ein neues System der Organisation und Bewertung von Wissen, wie Gantet mit Blick auf Wilhelm Leibniz zeigte. Die voranschreitende Alphabetisierung im 18. Jahrhundert sowie mediale Veränderungen im Druckwesen hätten die Öffnung für ein neues Publikum begünstigt und damit verbunden auch die Ausweitung des Themenspektrums wissenschaftlicher Zeitschriften – eine Dynamik, die von vielen Intellektuellen jedoch kritisch gesehen worden sei. Wie Gantet resümierte, greift das Bild einer teleologischen Entwicklung hin zur offenen Wissenschaft zu kurz.

Die zweite Session machte einen Sprung ins 20. Jahrhundert. EDGAR LEJEUNE (Rouen) führte am Beispiel der Mediävistik aus, wie der Einsatz computergestützter Instrumente in dieser Forschungscommunity spätestens ab den 1970er-Jahren breite Hoffnungen auf eine neue kumulative historische Wissensproduktion geweckt hat. Kontrovers diskutiert worden sei dabei jedoch, inwiefern sich die mediävistische Forschung hierfür neu organisieren müsse. Forderungen nach einer grundsätzlichen Reorganisation der Mediävistik, etwa durch eine Einigung auf übergeordnete Standards beim Einsatz digitaler Werkzeuge, seien Bottom‑up‑Ansätzen gegenübergestanden, die in der projektbasierten Kooperation von Historikerinnen und Historikern mit IT‑Fachpersonen einen produktiven Ansatzpunkt für methodische Weiterentwicklungen gesehen hätten. Beide Ansätze seien für die Entstehung der Digital Humanities prägend gewesen, hätten jedoch im Falle der Mediävistik nicht zur erhofften Akkumulation historischen Wissens geführt.

Wie SIMON DONIG (Marburg) mit Blick auf die historischen Sozialwissenschaften in Deutschland ausführte, kamen Diskussionen über offene Forschungsdaten hier erst in den späten 1980er-Jahren auf, als computergestützte Werkzeuge wie SPSS breit zugänglich wurden. Dennoch seien Forschungsdaten aus dieser Periode heute kaum mehr zugänglich, wie Donig anhand verschiedener Beispiele verdeutlichte. Als Grund dafür nannte er das Fehlen von Forschungsinfrastrukturen, womit er zum zweiten Teil seines Vortrags überleitete, in dem er das deutsche Konsortium NFDI4Memory vorstellte. An verschiedenen Beispielen illustrierte Donig die grosse Bandbreite an Forschungsdateninfrastrukturen, die unter dem Dach der NFDI4Memory für die historischen Wissenschaften entwickelt werden. Gleichzeitig betonte er die Vision der NFDI, unterschiedliche Forschungsdaten in einem föderierten Datenraum auf Metadatenebene miteinander zu verknüpfen.

Das Vormittagsprogramm endete mit dem ersten Podium zur Frage der Partizipation an den Wissenschaften. An die historischen Perspektiven auf Open Science der vorangehenden Vorträge anknüpfend, wollte ALESSIA SMANIOTTO (Paris) von den drei Podiumsteilnehmenden wissen, ob es tatsächlich neu sei, Nicht-Forschende in die Forschungspraxis zu involvieren. Sowohl MORGAN MEYER (Paris) als auch STEFAN WIEDERKEHR (Zürich) verwiesen auf die lange Geschichte von Amateurwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern seit dem 17. Jahrhundert. Ihr Mitwirken sei jedoch durch die Professionalisierung der Wissenschaften und die Verlagerung der Forschungspraxis in nicht-öffentliche Räume erschwert worden, betonte Meyer. Wiederkehr hingegen sah gerade in den jüngsten Entwicklungen der Digitalisierung neue Möglichkeiten zur Beteiligung von Amateurinnen und Amateuren an kollaborativ genutzten Plattformen. Mit der Frage, ob partizipative Praktiken der Wissensproduktion als Herausforderung oder als Chance für Open Science zu sehen seien, lenkte Smaniotto die Diskussion in die Gegenwart. MARINE DENIS (Grenoble) betonte die grossen Chancen der Beteiligung der Zivilbevölkerung am Beispiel von Untersuchungen zur Luftverschmutzung im Vallée d’Arve. Durch den Einbezug der Zivilbevölkerung könne lokales Wissen in die Konzeption von Forschungsprojekten einfliessen, was zu valideren Ergebnissen führe und gleichzeitig die gesellschaftliche Akzeptanz wissenschaftlicher Ergebnisse fördere.

MARCEL KNÖCHELMANN (Yale) warf in seinem Vortrag einen kritischen Blick auf die Entwicklungen von Open Science und insbesondere auf die Förderung von Open-Access-Publikationen. Das ursprüngliche Versprechen, geisteswissenschaftliche Forschung für alle zugänglich zu machen und so den wissenschaftlichen Diskurs zu öffnen, sei kaum eingelöst worden. Zwar habe sich die Grenze der Paywalls verschoben, doch da am Kern der wissenschaftlichen Bewertungslogiken und dem damit verbundenen hohen Publikationsdruck nichts geändert worden sei, hätten die oft gut gemeinten Bemühungen zur Förderung von Open Access nicht zu einer echten Öffnung der Geisteswissenschaften geführt. Aus der Perspektive der Forschenden werde Open Science deshalb vorwiegend als bürokratische Bürde wahrgenommen. Anstelle der ursprünglich für die Open-Science-Bewegung leitenden Vorstellung einer Transformation der wissenschaftlichen Kommunikation habe sich ein administratives System verfestigt, das weiterhin Exklusion reproduziere und Offenheit zur bürokratischen Pflicht erkläre.

FERNANDA BEIGEL (Cuyo) stellte die Entwicklungen von Open Science in einen globalen Kontext und stützte sich in ihren Ausführungen massgeblich auf Erkenntnisse, die sie als Vorsitzende des UNESCO Advisory Committee zur Verabschiedung einer Open-Science-Empfehlung im Jahr 2021 gewonnen hatte. Insbesondere indigene Gruppen hätten gegenüber Forderungen nach dem Teilen und Verwerten von Wissen grosse Vorbehalte geäussert und auf die Autonomie ihrer Wissenssysteme gepocht, was zur Ergänzung der FAIR-Prinzipien durch die CARE-Prinzipien geführt habe. Anhand von Open-Science-Weltkarten zeigte Beigel strukturelle Ungleichheiten bei zentralen Open-Science-Indikatoren, wie der Anzahl von ORCID-IDs oder der Anzahl vergebener DOIs pro Land. Die Förderung von Open Science sei zwar wichtig, bleibe aber vor dem Hintergrund globaler Ungleichheiten unzulänglich für eine inklusive Öffnung der Wissenschaften, wenn nicht gleichzeitig die Bewertungssysteme für wissenschaftliche Qualität revidiert würden.

Auch SAMUEL MOORE (Cambridge) präsentierte mit dem Projekt Materialising Open Research Practices in the Humanities and Social Sciences (MORPHSS) einen Ansatz zur Erweiterung und Revidierung des vorherrschenden Open-Science-Konzepts, das wegen seiner Engführung auf Prinzipien wie Transparenz und Reproduzierbarkeit in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen in Grossbritannien oft zurückgewiesen werde. Das Projekt MORPHSS setze dagegen bei bereits existierenden Praktiken offener Wissenschaften in den Geistes- und Sozialwissenschaften an, die in einem Katalog sichtbar gemacht werden sollen. Moore betonte, dass hierfür eine Perspektivenverschiebung weg vom Fokus auf Objekte und Ressourcen von Forschung hin zu Forschungsprozessen wichtig sei. Dadurch rückten andere Kriterien für Offenheit, wie Kollaboration und Inklusion, in den Vordergrund.

Die zweite Podiumsdiskussion zum Abschluss der Tagung war der in die Zukunft weisenden Frage «wohin führt Open Science?» gewidmet. Dumas und Natale wollten von den drei Podiumsteilnehmerinnen wissen, wie sie die Rolle der Bibliotheken bei einer – auch reflektierten und kritischen – Umsetzung von Open Science sehen. Sowohl NOÉMI COBOLET (Strasbourg) als auch ULRIKE WUTTKE (Potsdam) betonten, dass ihre Arbeit für offene Wissenschaften in der Bibliothek unterschiedliche Ebenen beinhalte, von der Entwicklung neuer Policies über den Aufbau neuer Infrastrukturen bis hin zur Notwendigkeit, zusammen mit Forschenden eine Praxis offener Wissenschaften zu etablieren. Die eigene Rolle, so betonte Wuttke, bestehe oftmals auch darin, unbequeme Fragen zu stellen. CHRISTIANE SIBILLE (Zürich) lenkte den Blick auf konkretere Aufgaben und Herausforderungen für Bibliotheken beim Bereitstellen und Zugänglichmachen eigener Sammlungen. Dem Aufbau nationaler Dateninfrastrukturen, wie er mit den NFDI in Deutschland vorangetrieben werde, mass Sibille eine wichtige Bedeutung bei, da diese ein gemeinsames Dach für benötigte technische Innovationen bereitstellen würden – was in der Schweiz jedoch fehle. Als kritisch stufte Wuttke die Entwicklungen im Bereich Open Access ein. Obwohl es vielversprechende Ansätze gebe, drohten kommerzielle Akteure die Überhand zu gewinnen, weshalb man hier an einem kritischen Kipppunkt angelangt sei. An diese Bedenken anknüpfend schlug Cobolet vor, die Mittel von Bibliotheken weniger für APCs und stattdessen vielmehr für den Aufbau offener Wissens- und Vermittlungsräume in Bibliotheken – an der Schnittstelle zwischen Forschung und Bevölkerung – nach dem Vorbild von Learning Centers in Frankreich zu verwenden.

Die Tagung schaffte es gerade mit der Frage nach den historischen Vorläufern von Open Science, einen interessanten Reflexionsraum aufzuspannen. Offenheit, so zeigte sich, war seit dem 18. Jahrhundert ein umstrittenes und wandelbares Konzept, das eng mit spezifischen Wissenschaftsvorstellungen und -praktiken sowie mit medialen und technischen Entwicklungen verknüpft war. Die Tagung regte denn auch dazu an, vorherrschende Konzepte und Open-Science-Stossrichtungen kritisch zu hinterfragen. Besonders ergiebig waren die zahlreichen Anregungen zur Erweiterung und Anpassung von Open Science – auch über die Geschichtswissenschaften hinaus –, etwa mit einem neuen Fokus auf die Offenheit von Forschungsprozessen und auf die Rolle von Bibliotheken bei der Ermöglichung von Wissensaustausch und Kollaboration, sowohl innerhalb der Forschung als auch mit der Bevölkerung.  

 

Programm

Begrüssung: Enrico Natale (infoclio.ch), Simon Dumas Primbault (CNRS), François Vallotton (Université de Lausanne)

 

Session 1: Die Anfänge der Öffnung der Wissenschaften

Claire Gantet (Université de Fribourg) : Transparence et ouverture ou fermeture : pratiques et publics de la science, 1660-1800

Maria Chiara Pievatolo (Università di Pisa): Science as “A Problem Not Yet Fully Resolved”: Universities and the Public Use of Reason Between Kant and Humboldt

 

Session 2: Eine Technikgeschichte von Open Science

Edgar Lejeune (Université de Rouen): How to Produce Open Data? Epistemological and Organizational Challenges in Medieval History (1960-1990)

Simon Donig (Herder Institut, Marburg): 404 Data Not Found! Offenheit und Nachhaltigkeit in der deutschen Geschichtswissenschaft

 

Podium: Wer darf heute an den Wissenschaften teilnehmen?

  • Morgan Meyer (CNRS)
  • Marine Denis (Institut écocitoyen Pays du Mont-Blanc)
  • Stefan Wiederkehr (Zentralbibliothek Zürich)
  • Moderation: Alessia Smaniotto (OpenEdition)

 

Session 3: Über die Grenzen von Open Science hinaus

Marcel Knöchelmann (Yale University): A Missed Revolution: Open Humanities and the Unforced Force of the Better Argument

Fernanda Beigel (Universidad National de Cuyo): Towards an Inclusive Open Science

Samuel Moore (Cambridge University Library): “Morphing” Open Science for the Humanities and Social Sciences

offene Fragerunde

 

Podium: Wohin führt Open Science?

  • Noémi Cobolet (Université de Strasbourg)
  • Ulrike Wuttke (Fachhochschule Potsdam)
  • Christiane Sibille (ETH Bibliothek Zürich)
  • Moderation: Simon Dumas Primbault (OpenEdition Lab, CNRS), Enrico Natale (infoclio.ch)
  • 1Dieser Bericht entstand im Auftrag von infoclio.ch.
Evènement
infoclio.ch-Tagung 2025: Open Science in History. Öffnung der Wissenschaften von der Aufklärung bis zur künstlichen Intelligenz
Organisé par
infoclio.ch / OpenEdition Lab
Date de l'événement
Lieu
Bern
Langue
Allemand
Report type
Conference