Die Schweiz besass nie eigene Kolonien. Dieser Umstand dürfte weitgehend dafür verantwortlich sein, dass schweizerische Kolonialgeschichte sowohl im allgemein verbreiteten Geschichtsbild wie auch in der Geschichtsschreibung praktisch inexistent ist. Das Bestehen bedeutender Verbindungen zwischen früheren Kolonialländern und der Schweiz als Exportland ohne eigene Rohstoffe machen die Geschichte von deren Beschaffung im Ausland wie auch die wirtschaftlichen Beziehungen zu überseeischen Gebieten zu einer Forschungslücke. Das Kakaogeschäft der „Missions-Handlungs-Gesellschaft“ (MHG) bietet sich als Untersuchungsgegenstand an – nicht nur, weil es auf die Schokolade als symbolhaftes Schweizer Produkt verweist.
Neben dem Thema fand auch die Methode der Arbeit bisher in der Geschichtswissenschaft nur wenig Beachtung. Als Hauptquellen wurden zeitgenössische Fotografien aus dem Bildarchiv der Basler Mission (BM) verwendet. Da der Umgang mit diesen Quellen ein spezifisches Vorgehen erfordert, das in der Geschichtswissenschaft noch nicht etabliert ist, wird methodischen Überlegungen ein eigenes Kapitel gewidmet. Das in diesem erarbeitete fünfstufige Bearbeitungsmodell bildet die Grundlage für die Analyse und Interpretation der Fotografien. Ergänzend wurden schriftliche Akten aus dem Archiv der BM und der Union Trading Company (UTC, wie die MHG später hiess) verwendet.
In der Untersuchungsperiode vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg entstand und entwickelte sich das Kakaogeschäft an der Goldküste (heute: Ghana) rasend. Untersucht wird die direkte Beteiligung der Schweizer Institutionen UTC und BM an diesem Geschäft, wobei die Perspektive auf die „men on the spot“ gerichtet ist, auf die „Handlungsbrüder“ und Missionare sowie ihre afrikanischen PartnerInnen. Die auf der Grundlage des Kakaohandels extrem beschleunigte Entwicklung löste an der Goldküste einen enormen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Wandel aus. Dieser Wandel lässt sich (aus europäischer Sicht) mit einigen Stichworten umreissen: direktere Verwaltung durch England, Verschiebung der „trader’s frontier“ ins Landesinnere, Ausbau der Verkehrswege, Kakaoboom, enorme Steigerung des Handelsvolumens, Investitionen und neue Niederlassungen europäischer Firmen. Die UTC war die ganze untersuchte Zeit über an diesen Prozessen massgeblich beteiligt, wenn auch nicht ganz auf die Art, wie es die missionsnahe Literatur glauben macht.
Das untersuchte Kakaogeschäft erweist sich als System mit drei Sphären: eine erste des Anbaus, eine zweite der Verarbeitung und des Einkaufs von Rohkakao und eine dritte des unmittelbaren Geschäftsbereichs der europäischen Firmen. Die Bearbeitung der Fotografien zeigte auch den drei Sphären entsprechende Darstellungskonventionen. Die Fotografien repräsentieren den Kakaoanbau als Sphäre der Einheimischen, in der die BM präsent ist. Im Anbau und auch für die ersten Verarbeitungsschritte in den Plantagen ist keine Evidenz für ein aktives Engagement von Europäern zu finden. Die direkte Beteiligung der UTC am Kakaogeschäft scheint sich hauptsächlich auf die Abnahme, die Trocknung, den Transport und die Vermarktung des Kakaos beschränkt zu haben. Die Fotografien aus diesen Bereichen sind denn auch ergiebiger und können mit schriftlichen Nebenüberlieferungen befriedigend eingeordnet werden. Sehr schön lässt sich mit den historischen Fotografien das Vordringen der europäischen Aktivitäten ins Landesinnere zeigen, welches zum Beispiel im Transportwesen die Kopftransporte immer weiter zurück- und aus den „channels of civilization“ herausdrängte, was auch sozio-ökonomische Konsequenzen hatte. Mit den Fotografien von Handelsniederlassungen der UTC lässt sich zwar das Netz der Kakaobeschaffung von der Küste bis ins Landesinnere aufzeigen, wobei aber von Europäern geführte Filialen visuell deutlich besser überliefert sind. Die ungleiche Dichte an Quellenmaterial ist strukturell bedingt (und dadurch interpretierbar), da die Technik und Praxis der Fotografie sich in Afrika mit der kolonialen Durchdringung in gewissen Bereichen stärker als in anderen verbreiteten.
Die verwendeten fotografischen Quellen lassen sich verschiedenen „Bildprogrammen“ zuordnen. Betrachtet man sie als Missionsfotografien, kann man in ihnen eine doppelte Kontrollfunktion erkennen: Auf der einen Seite konnte die Leitung der Mission mit Fotografien aus den Missionsgebieten die Tätigkeit vor Ort kontrollieren, andererseits konnte sie mit den Fotografien ihre propagandistischen Tätigkeiten in der Heimat wahrnehmen und damit das „Bild“ der Mission in der Öffentlichkeit kontrollieren. Die Vermischung kolonialer Interessen mit jenen der Mission ist in fotografischen Darstellungen ebenfalls erkennbar. Die „colonising camera“, welche parallel zur militärischen und politischen Kontrolle die visuelle Kontrolle über die Kolonisierten herstellte, manifestiert sich in den bearbeiteten Bildern vor allem des Transportwesens und der Handelsstationen. Die europäisierte (Selbst)Darstellung der einheimischen Angestellten ist gleichzeitig eine Inszenierung des Erfolges der „Zivilisierung“ im Sinne der Mission und die eigene Repräsentation der Abgebildeten als neue soziale Gruppe, die aus dem Kakaogeschäft hervorging. Die Darstellungen von Einheimischen auf den bearbeiteten Fotografien zeigen aber auch die Macht und Kontrolle der europäischen (Missions-)Händler.
Neben Aussagen über die Mission und den Kolonialismus im Allgemeinen lassen sich anhand der Fotografien vor allem Aussagen über den sozialen Wandel (zum Beispiel der Wandel von Geschlechterrollen im ökonomischen Bereich) in Afrika machen. Trotz unterschiedlicher, auch visuell vermittelter, Ausrichtungen der beiden Institutionen BM und UTC spielten beide eine wichtige Rolle in der Verbreitung europäischer Kultur. Die Filialen der UTC waren als „ports of acculturation“ bei diesen Veränderungen zentral, diese hatten vielleicht sogar mehr Einfluss auf die einheimische Bevölkerung als die Mission selber; die Anstellung bei der UTC scheint eine weltliche Ergänzung zu den Missionsschulen gewesen zu sein. Die Fotografien geben einen direkten Blick auf die „educated Africans“, die „neuen Eliten“, die meist in Missionsschulen ausgebildet worden waren, und die hauptsächlich aus dem Kakaogeschäft hervorgegangene afrikanische „middle class“; beides soziale Gruppen, die sich in der hier untersuchten Periode herausbildeten und zu einem zentralen Faktor für die weitere Entwicklung des Landes wurden.