Akteur:innen, die Menschlichkeit vor Gesetzlichkeit stellten? Eine Analyse der Strafverfolgung von Fluchthelfenden im St. Galler Rheintal 1938 – 1940

Nom de l'auteur
Julia
Stucki
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Julia
Richers
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2023/2024
Abstract

Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 suchten zehntausende Menschen aus dem Deutschen Reich und den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten Schutz in der Schweiz. Besonders das Grenzgebiet im St. Galler Rheintal spielte nach dem Anschluss Österreichs 1938 eine Schlüsselrolle als Schauplatz der ersten grossen jüdischen Fluchtwelle aus Wien. Als Reaktion auf die steigenden Flüchtlingszahlen reagierten die Schweizer Behörden mit einer schrittweisen Verschärfung der Einreisebestimmungen. Für viele Flüchtende war der illegale Grenzübertritt die einzige Möglichkeit der nationalsozialistischen Regierung zu entkommen. In dieser Lage spielten die Fluchthelfenden eine zentrale Rolle. Ihre Ortskenntnis, ihre Netzwerke und ihr Mut waren für die Flüchtenden in dieser Zeit, in der die Schweizer Grenzen strenger bewacht und die Gesetze gegenüber jüdischen Flüchtenden zunehmend repressiver durchgesetzt wurden, unabdingbar. Mit der Schliessung der Grenzen am 18. August 1938 durch einen Erlass des Schweizer Bundesrates entstand ein Spannungsfeld zwischen Menschlichkeit und Gesetzlichkeit. Dieses Spannungsfeld prägte die Dynamiken der Fluchthilfe im St. Galler Rheintal in den Jahren 1938 bis 1940 nachhaltig.

 

Die vorliegende Masterarbeit untersucht die Fluchthilfe im St. Galler Rheintal zwischen 1938 und 1940, einer Zeit verschärfter Schweizer Asylpolitik und zunehmender nationalsozialistischer Verfolgung in den Nachbarregionen. Im Fokus steht die Strafverfolgung von Fluchthelfenden, ihren Netzwerken und Motiven sowie die Schicksale der von ihnen unterstützten Flüchtlinge. Dabei verbindet die Arbeit sozialgeschichtliche Ansätze mit einer Analyse juristischer Dokumente, um die Dynamiken der Fluchthilfe und ihre Repression zu beleuchten.

 

Während vereinzelte Fluchthelfende wie der St. Galler Polizeihauptkommandant Paul Grüninger für sein Engagement bereits viel Aufmerksamkeit erhalten hat, existieren weitere Fluchthelfende aus dem Kanton St. Gallen in seinem Schatten. Diesen bisher unbekannten Fluchthelfenden, die ebenfalls Risiken und Gefahren auf sich nahmen und durch ihre Taten Grosses geleistet haben, wird in dieser Forschungsarbeit Aufmerksamkeit gewidmet.

 

Die Analyse stützt sich auf Strafakten der kantonalen und kommunalen Behörden, ergänzt durch Zeitzeugenberichte und einschlägige Sekundärliteratur. Diese Quellen ermöglichen eine mikrohistorische Perspektive auf die Fluchthilfeprozesse und beleuchten zugleich die sozialen und juristischen Dynamiken. Methodisch kombiniert die Arbeit biografische Analyse mit Netzwerkanalyse, um individuelle Handlungsweisen und die Verknüpfungen innerhalb der Fluchthilfestrukturen nachzuvollziehen.

 

Die Forschung zeigt, dass die Fluchthilfe stark durch soziale Netzwerke geprägt war, die von familiären Verbindungen in den Grenzregionen bis zu transnationalen Kontakten reichten. Besonders Diepoldsau und die umliegenden Grenzorte stellten eine zentrale Drehscheibe dar, wobei auch städtische Zentren wie Zürich und St. Gallen wichtige organisatorische Funktionen übernahmen. Neben lokalen Akteur:innen wie Landjäger und Fahrern spielten Frauen eine bisher unterschätzte, aber essenzielle Rolle. Sie agierten häufig im Hintergrund als „stille Helferinnen“, indem sie Flüchtlinge mit Unterkunft, Nahrung und Kleidung versorgten.

 

Die geografische Nähe zur Grenze prägte die Dynamiken der Fluchthilfe massgeblich. Das Rheintal als geografische Grenzregion war eine Schnittstelle zwischen Menschlichkeit und Gesetzlichkeit. Historisch etablierte Netzwerke, die zuvor für Handel oder Schmuggel genutzt wurden, dienten als Infrastruktur für Fluchthilfe. Gleichzeitig boten juristische Grauzonen Handlungsspielräume, die von Fluchthelfer:innen genutzt wurden. Die Konfrontation der lokalen Bevölkerung mit der Notlage der Flüchtlinge erzeugte moralische Imperative, die oftmals im Konflikt mit den restriktiven Bestimmungen der Schweizer Asylpolitik standen.

 

Ein weiteres zentrales Ergebnis ist die Heterogenität der Motive der Fluchthelfer:innen. Während einige aus moralischen und humanitären Überzeugungen handelten, waren andere durch ökonomische Notlagen oder politische Solidarität motiviert. Der Fall betreffend Hermann Hutmacher, der trotz persönlicher Risiken einen jüdischen Flüchtling unterstützte, und der Einsatz jüdischer Netzwerke, die den Informationsaustausch und die Rettung weiterer Verfolgter ermöglichten, verdeutlichen die komplexen Beweggründe und die Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure.

 

Die Analyse der Strafverfolgung zeigt eine ambivalente Haltung der Schweizer Behörden. Einerseits kriminalisierten sie die Fluchthelfer:innen konsequent und belegten die Beteiligten mit Geldstrafen. Andererseits offenbaren Fälle wie die Auslieferung des politischen Flüchtlings Robert Hagen an die Gestapo die Nähe zur nationalsozialistischen Politik. Trotz der systematischen Verfolgung von Fluchthilfe blieben viele Helfende, wie Johann Spirig, der laut Zeitzeugenberichten zahlreiche Flüchtlinge über die Grenze brachte, im Zeitraum von 1938-1940 unerfasst.

 

Die vorliegende Arbeit verdeutlicht, dass Fluchthilfe im Rheintal nicht nur ein Akt der Menschlichkeit war, sondern auch durch individuelle Lebensumstände, lokale Gegebenheiten und rechtliche Grauzonen geprägt wurde. Indem die Arbeit die Ambivalenz zwischen humanitärem Engagement und restriktiver Asylpolitik herausarbeitet, trägt sie nicht nur zur Debatte um die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs bei, sondern wirft ebenfalls ein Schlaglicht auf die bisher unbekannten Fluchthelfenden des Kanton St. Gallens.

Accès au document

Bibliothèque

Les travaux académiques sont déposés à la bibliothèque de l'université concernée. Cherchez le travail dans le catalogue collectif des bibliothèques suisses