Der Umbruch 1989/90 in der DDR. Gedanken und Gefühle in Tagebüchern dreier Frauen aus der DDR

Nom de l'auteur
Lisa
Schmied
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Julia
Richers
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2021/2022
Abstract

Zum Umbruch von 1989/90 in der DDR, der mit dem Fall der Mauer in Berlin einherging und 1990 schliesslich in der Wiedervereinigung der DDR mit der BRD mündete, sind bislang eine Vielzahl an wissenschaftlichen Publikationen erschienen. Analysen, die sich primär mit der unmittelbaren, individuellen Wahrnehmung des Umbruchs von 1989/90 „unbekannter Zeitgenoss:innen“ auseinandersetzen, gibt es bis dato jedoch kaum. Die Masterarbeit untersucht anhand von unveröffentlichten, privaten Tagebüchern dreier Frauen aus der DDR die subjektive Wahrnehmung dieser historischen Zäsur. Sie leistet damit einen Beitrag zur Erforschung dieses Transformationsprozesses von unten.

Im Zentrum der Masterarbeit steht die Frage, wie die einzelnen Tagebuchautorinnen den Umbruch von 1989/90 in der DDR wahrnahmen. Wann begannen die Frauen, erste Risse im System wahrzunehmen und wann fingen sie an, sich politisch zu interessieren? Welchen Stellenwert nimmt der Umbruch von 1989/90 in den einzelnen Tagebüchern ein und stellte dieser für die einzelne Tagebuchautorin eine Zäsur dar oder waren andere Themen wichtiger? Welche Gefühle werden erwähnt und was bedeutet die Abwesenheit von Gefühlen? Diese Fragen sind ebenso Gegenstand des Erkenntnisinteresses. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von August 1989 bis Frühsommer 1990 und deckt damit die Kernzeit der Wende ab.

Im Zuge der Quellenrecherchen wurden über 40 Institutionen, darunter Archive, Gedenkstätten, Museen, Forschungsinstitute, Vereine und Gesellschaften, angeschrieben. Der Rücklauf zeigte, dass es sich bei solchen Tagebuchquellen um ein sehr rares Gut handelt. Einzig das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen sowie das Stadtarchiv Dessau-Rosslau verfügten über unveröffentlichte Tagebücher aus der DDR aus den Jahren 1989/90.

Mit einem an Philipp Mayrings qualitativer Inhaltsanalyse angelehnten Mixed-Methods-Ansatz wurde in einem ersten Schritt jedes Tagebuch und sein Inhalt codiert und mit der Zuordnung von Textpassagen zu einzelnen Themenkategorien ein Kategoriensystem entwickelt. Auf der Grundlage dieses Kategoriensystems wurden mittels einer quantitativen Auswertung die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen der einzelnen Tagebücher grafisch dargestellt, um einen ersten Überblick über die Themen in den Tagebüchern zu erhalten. Insgesamt ergaben sich 17 Themenkategorien (darunter Arbeit, Gefühle und Selbstreflexion, Haushalt, Politik und Zeitgeschehen DDR/BRD, soziale Beziehungen). In einem zweiten Schritt kamen die Tagebuchautorinnen selbst zu Wort. Mittels einer qualitativen Feinanalyse konnten ihre Gedanken, Sorgen und Ängste sowie ihre Wahrnehmung der Ereignisse in den Fokus gerückt werden.

Die Analyse der Tagebücher zeigt eindrücklich, wie unterschiedlich die drei Tagebuchautorinnen den Umbruch von 1989/90 wahrnahmen. So berichtete die Dessauerin Christa B. in ihrem Tagebuch mehrfach davon, dass die politischen Veränderungen für sie zu spät kamen und sie sich als Angehörige einer „betrogenen Generation“ fühlte. Ihre Tagebuchaufzeichnungen sind von Enttäuschung und Trauer, aber auch von Wut über all die verpassten Jahre und Erschütterung angesichts der Demaskierung des Systems gekennzeichnet. Für Christa B., die sich trotz allem eine „sozialistische Alternative“ erhoffte, führte das absehbare Ende der DDR zu einer Desillusionierung und Orientierungslosigkeit.

Hildegard M., die den Umbruch von 1989/90 in Dresden und den Fall der Mauer in Berlin erlebte, wurde anfänglich von einer Welle der Euphorie erfasst. Ab Februar/März 1990 wich diese Euphorie jedoch einer Hoffnungslosigkeit, die mit grossen Zukunftsängsten verbunden war. Die Ängste wurden unter anderem durch die ihr drohende Arbeitslosigkeit ausgelöst, waren aber auch der nun offenen politischen Zukunft geschuldet.

Im Gegensatz dazu nahm die Neubrandenburgerin Ingeborg T. kaum Notiz von der beginnenden Systemkrise. Die Autorin durchlebte während der Umbruchsereignisse sowohl in ihrem Berufsleben als auch in ihrer Ehe eine problembehaftete Zeit, die sich in ihren Tagebüchern niederschlägt und die Thematisierung politischer Ereignisse in den Hintergrund rücken lässt.

Trotz der vielen Unterschiede, die sich unter den drei Tagebuchschreiberinnen festmachen lassen, gibt es auch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Nicht nur gehörten die Tagebuchautorinnen derselben Generation an, sie standen auch einer Vereinigung der DDR mit der BRD äusserst ablehnend gegenüber. Dies ist insofern erstaunlich, als dass sie damit nicht zur Mehrheit der Stimmberechtigten in der DDR gehörten, die sich bei der ersten Volkskammerwahl vom 18. März 1990 für den schnellsten Weg zur Wiedervereinigung aussprach. Die Tagebücher von Christa B., Hildegard M. und Ingeborg T. erlauben eine einzigartige Sicht auf die Umbruchszeit in der DDR und zeigen einmal mehr, dass Tagebücher wertvolle Quellen sind, die aus der historischen Forschung nicht mehr wegzudenken sind.

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