Weibliche Handlungssphären in der bürgerlichen Gesellschaft Hamburgs zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Lebenswelt und Subjektivität der Maria Magdalena Caroline Beneke anhand ihres Briefverkehrs 1806 – 1816

Nom de l'auteur
Livia
Notter
Type de travail
Mémoire de master
Nom du professeur
Prof.
Joachim
Eibach
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2022/2023
Abstract

Weibliche Selbstzeugnisse sind seit einigen Jahrzehnten ein vielversprechender und vielfältiger historischer Forschungsgegenstand. Sie bieten die Möglichkeit, einen mikroperspektivischen Einblick in die soziale und gesellschaftliche Realität von Frauen vergangener Jahrhunderte zu erhalten und können so auf Missstände und Widersprüche in der Gegenwart hinweisen. Dies gilt auch für die bis heute nicht erschöpfend erforschten Briefe und tagebuchähnlichen Schriften von Maria Magdalena Caroline Beneke (1788–1865, geb. von Axen, Rufname Caroline), einer Frau aus dem Hamburger Bürgertum des 19. Jahrhunderts. Während das Leben und Wirken ihres Ehemanns und exzessiven Tagebuchsschreibers Ferdinand Beneke (1774–1848) schon ausführlich aufgearbeitet wurde, war Caroline Beneke bis anhin weniger Gegenstand der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Es existiert, trotz ihrem sozialen Engagement und ihrer Sichtbarkeit in der Hamburger Gesellschaft, keine Biographie über sie.

In der Arbeit werden die Selbstzeugnisse von Caroline Beneke aus einer geschlechter-, kultur- und sozialgeschichtlichen sowie mikrohistorischen Perspektive analysiert, um so ihre Lebenswelt und Subjektivität fassbar zu machen und einen Einblick in die Genese und Handlungssphären eines weiblichen Subjekts und dessen Habitus in der bürgerlichen Gesellschaft im Hamburg des beginnenden 19. Jahrhunderts zu gewähren. Die Inhaltsanalyse der Quellen führte zu einer Einteilung eine emotionale, eine  häusliche und eine kommunikative/repräsentative Sphäre. Die Gliederung der Lebenswelt von Caroline Beneke in diese drei oben genannten Sphären will versuchen, das starre und wenig produktive Konzept einer dichotomen Zuteilung des weiblichen Geschlechts zur privaten Sphäre und des männlichen Geschlechts zur öffentlichen Sphäre, welches die geschlechtergeschichtliche Forschung lange verfolgt hat, aufzubrechen, um ein flexibleres Modell zum Erfassen von subjektiven Lebenswelten zu schaffen.

Die Quellen liegen für die Jahre 1806 bis 1816 dank der Arbeit des Forschungsteams der Beneke-Edition in transkribierter und edierter Form vor. Der Inhalt der Briefe wurde mit einem Software-Programm für qualitative Datenanalyse, MAXQDA, analysiert. Dabei sind die rund 300 tagebuchähnlichen Selbstzeugnisse und Briefe von oder an Caroline Beneke im Detail durchgelesen und einzelne Abschnitte mit diversen Codes versehen worden. Die Codes umfassen u. a. Bereiche wie Politik, Kultur, Bildung, das Verhältnis des Ehepaars Beneke zueinander, Freundschaft/Netzwerke, Geselligkeit, Geschlechterrollen, Kindererziehung, aber auch die Selbstempfindung von Caroline Beneke und ihre Reflexionen über diverse Gefühle.

Die Untersuchung der Quellen ergab, dass Caroline Benekes Lebenswelt – das heisst nach Jürgen Habermas ihr kommunikatives Handeln – sich über alle Bereiche des bürgerlichen Kosmos erstreckte und sie per se von keinen Handlungssphären des Bürgertums vollkommen ausgeschlossen war. Sie war in politischen Belangen als eine Art Berichterstatterin und Überbringerin von Neuigkeiten involviert und fungierte in kommunikativen Praktiken wie dem Pflegen von Netzwerken und der damit verbundenen Geselligkeit als wichtige Repräsentantin ihrer eigenen Interessen und jener ihrer Familie. Sie schuf sich in kulturellen und religiösen Angelegenheiten durch Bildungsinteresse und eine ausgeprägte Frömmigkeit einen eigenen emanzipierten Handlungsraum, was sie zu einer gefragten Freundin und Gesprächspartnerin machte. Auf der Ebene der Familie – innerhalb der häuslichen Sphäre – übernahm sie wichtige Aufgaben bezüglich der Organisation des Haushalts und in der Koordination von finanziellen und geschäftlichen Angelegenheiten. Als Mutter von (während des Untersuchungszeitraums) bis zu drei Kindern nahm sie die Funktion als Erzieherin und teilweise auch Lehrerin der Kinder wahr, und innerhalb der Ehe zwischen Caroline und Ferdinand Beneke

lässt sich eine Entwicklung hin zu einem ebenbürtigen Verhältnis des Ehepaars erkennen.

Die Wirkung und Relevanz von Caroline Beneke erstreckte sich also weiter, als es das dichotome Forschungskonzept einer privaten (weiblich konnotierten) und einer öffentlichen (männlich konnotierten) Sphäre zulassen würde: Vielmehr agierte Caroline Beneke vor allem in den späteren Untersuchungsjahren mit grosser Selbstständigkeit in unterschiedlichen Handlungssphären, die flexibel waren. Zudem bildet die Diskrepanz zwischen normierenden Wertevorstellungen und gelebter sozialer Realität einen roten Faden in dieser Arbeit. Die Lebensrealität von Caroline Beneke weicht immer wieder von den Idealen des bürgerlichen Wertehimmels ab.

Überschattet und limitiert wird die These von der erweiterten Handlungsmacht der Frau im 19. Jahrhundert letztlich durch den Umstand, dass Frauen ohne Ehemänner in wichtigen gesellschaftlichen Positionen zu dieser Zeit meist gar nicht erst eine gewisse Handlungsrelevanz erreichen konnten. Denn, dass Carolines Ehemann Ferdinand Beneke wohl definierend auf die Subjektivität und Lebenswelt von Caroline Beneke einwirkte, liegt aufgrund der patriarchalen Struktur auf der Hand.