"Allein, das Auge des Gesetzes wacht!" Das ungesetzliche Verhalten einheimischer und temporärer Zuwanderer auf einer schweizerischen Grossbaustelle des 20. Jahrhunderts

Nom de l'auteur
Peter
Dängeli
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christoph Maria
Merki
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2009/2010
Abstract


Grosse Infrastrukturprojekte greifen mittelund langfristig in die räumliche Struktur des betroffenen Gebietes ein, in kurzer Zeit verschieben sich die demographischen Gewichte häufig besonders stark. Durch den Bau des Lötschberg-Scheiteltunnels (1906–1915) stieg die Einwohnerzahl des Bergdorfs Kandersteg zwischen 1900 und 1910 von 445 auf 3554 an, wobei die Zuwanderer zur grossen Mehrheit aus Italien stammten.

Die Arbeit nimmt diese Ausnahmesituation zum Anlass, die gesellschaftliche Integration der zugewanderten Arbeiter zu untersuchen und zu analysieren, wie die Zuwanderung im Oberen Kandertal ihren Niederschlag in Reglementen und Gesetzen fand. Ausgehend von den behördlichen Kontrollinstanzen und basierend auf den von ihnen produzierten Akten erfolgt eine Einschätzung, in welchem Mass die Zuwanderer, aber auch die Einheimischen mit den verschiedenen Paragraphen in Konflikt gerieten.

Eine Beschreibung, wie sich die Talbevölkerung mit den Zuwanderern arrangierte und wie die Fremden wahrgenommen wurden, bildet den ersten Teil der Untersuchung. Sie basiert zur Hauptsache auf Protokollen der Gemeindebehörden und auf Zeitungsartikeln. Bei der Ansiedlung der Arbeitermassen waren die Gemeindebehörden auf räumliche Segregation bedacht. Dafür, dass die Arbeitersiedlungen fast zuhinterst im Tal entstanden, waren in Kandersteg nicht nur pragmatische Gründe der Nähe zum entstehenden Tunnelportal ausschlaggebend, sondern auch die Sorge des Verkehrsvereins um die „Entwicklung des Ortes als Fremdenplatz.“ Zur Regelung der Wohnsituation wurden in den ersten Jahren des Tunnelbaus mehrere Bauund Sanitätsreglemente erlassen, deren Einhaltung von eigens eingesetzten Kommissionen und den Beamten des 1905 eingerichteten und kontinuierlich ausgebauten Landjägerpostens überwacht wurde.

Die empirische Beantwortung der Frage nach der Delinquenz, die den analytischen Hauptteil der Arbeit bildet, stützt sich zur Hauptsache auf Aktenbestände des Regierungsstatthalteramtes Frutigen — den Schwerpunkt bildet eine Bussenkontrolle des Bezirks mit 1231 Busseinträgen der Jahre 1912 und 1913 — und der kantonalen Gerichte. Die Untersuchung zeigte, dass es nicht nur zwischen Ausländern und Schweizern Unterschiede in Art und Ausmass der aktenkundigen Regelverstösse gab, sondern auch innerhalb dieser beiden Herkunftsgruppen. Ein deutlicher Unterschied trat bei der Unterscheidung von schwerer und leichter Delinquenz zu Tage, wobei Schweizer bei Vergehen und Übertretungen die grosse Mehrheit stellten, während Ausländer sich ungleich häufiger für Verbrechen verantworten mussten. Die zeitgenössisch geläufigen Verallgemeinerungen der „gefährlichen Messerhelden aus dem Süden“ mit ihrem ausgeprägten Hang zu „Messereien“ werden entgegen diesem Befund durch gesamthaft mässige absolute Fallzahlen relativiert.

Zur weiten Verbreitung solcher Stereotype dürfte die Tatsache beigetragen haben, dass Schussund mehr noch Stichwaffen besonders unter jüngeren Tunnelarbeitern den Charakter von Statussymbolen hatten und sehr präsent waren. Wurden solche Waffen zu Tatwaffen, handelte es sich zumeist um Gewaltausbrüche in den Barackensiedlungen unter Ausländern, die sich in Wirtshäusern unter Alkoholeinfluss aus geringfügigen Konflikten angebahnt hatten. Diesen Streitigkeiten wurde durch die zuständigen Richter gleichermassen zumeist spontaner Charakter attestiert wie den meisten derjenigen Konflikte, die sich tagsüber mit direktem Bezug zur Arbeit abspielten. In den Urteilen fand der Vermerk „vorsätzlich, aber ohne Vorbedacht“ entsprechend häufigen Gebrauch. Die grosse Zahl der geahndeten Verstösse und Übertretungen wurde erst eigentlich durch die Kontrollen möglich, die mit der baubedingten Sondersituation im Tal Einzug gehalten hatten. Der Ausbau des Staates, der unternommen wurde, um den wahrgenommenen Problemlagen beizukommen, richtete sich damit in erster Linie und langfristig gesehen gegen die Einheimischen selbst, indem der Verstaatlichungsschub auch nach dem Abzug der Arbeiter anhielt.
Das starke Bedürfnis nach Sicherheit, Recht und Ordnung, das die Gemeindebehörden — etwa im Begehren nach Aufstockung des Landjägerkontingents oder Einführung von Nachtwächtern — äusserten, teilte der Kanton nicht umfänglich. Besonders die Gerichte des Bezirkes wurden durch die zeitweilige starke Bevölkerungszunahme an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht. Verursachend war hierbei nicht alleine der Anstieg der Fallzahlen, sondern auch die — unbesehen der Herkunft der Streitparteien — sehr aufwändigen Ermittlungen, die sich nicht selten in Detailfragen verloren, was durch die appellierten kantonalen Gerichtsinstanzen mehrfach gerügt wurde.

In der Arbeit berücksichtigt wurden aktenkundig gewordene Vorfälle aus einem bestimmten Zeitraum und einem fest umrissenen Gebiet. Wenngleich sich aufgrund dieser Untersuchungsanlage und der verhältnismässig kleinen Fallzahlen nur bedingt Verallgemeinerungen ableiten lassen, so zeigen ihre Befunde doch auf, inwiefern das Tal nicht erst durch die Eisenbahn und die erleichterte Anreise von willkommenen Gästen, sondern bereits durch die temporäre, aber umso intensivere Zuwanderung der eher unwillig geduldeten Arbeiter der Bauzeit geprägt wurde.

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