Psychiatrie und Justiz. Psychiatrische Gutachten in Strafprozessen und die Professionalisierung der Psychiatrie in der Schweiz 1880-1914

Nom de l'auteur
Urs
Germann
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
1998/1999
Abstract

Im Mai 1893 sprachen sich die Schweizer Irrenärzte in Chur für die Vereinheitlichung des Strafrechts aus. Gleichzeitig forderten sie eine rein medizinische Definition der Zurechnungsfähigkeit und Bestimmungen zur Verwahrung von unzurechnungsfähigen und «gemeingefährlichen» Straftätern im schweizerischen Strafgesetzbuch. Die Irrenärzte waren sich der Relevanz ihrer Forderungen bewusst, denn das bürgerliche Strafrecht machte aus der Zurechnungsfähigkeit des Angeschuldigten eine zwingende Voraussetzung für eine strafrechtliche Verurteilung. Bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit zu einer bevorzugten Aufgabe der forensischen Medizin und Psychiatrie geworden.

 

Die Forderungen der Irrenärzte werden im Kontext der internationalen Strafrechtsdebatte verständlich, die sich um 1890 im Anschluss an die Theorien der italienischen Kriminalanthropologen entzündete. Die Anhänger der «Scuola positiva» verlangten eine konsequente Medikalisierung des Strafrechts: kriminell gewordene Menschen sollten nicht mehr für ihr schuldhaftes Verhalten bestraft, sondern als «abnorme» Individuen verwahrt werden. Damit verbunden war die Forderung nach einer Stärkung der Kompetenzen medizinischer Experten bei der Beurteilung von Delinquenten. Die Schweizer Irrenärzte sahen in den politischen Bestrebungen zur Vereinheitlichung des Strafrechts eine günstige Gelegenheit, ihre Definitionsmacht rechtlich absichern zu lassen und dadurch die Professionalisierung ihrer Disziplin voranzutreiben. Sie stiessen mit ihren Forderungen aber auf Widerstand seitens traditionell eingestellter Juristen und so kam es zu heftigen «Grenzdisputen» über die Kompetenzen von Justiz und Psychiatrie. Das schweizerische Strafgesetzbuch von 1937 verwirklichte die Forderungen der Anhänger der «Scuola positiva» schliesslich nur in der gemässigten Form eines Dualismus von Strafen und Massnahmen. Am Beispiel des Kantons Bern kann aber gezeigt werden, dass ab 1890 die Zahl der psychiatrisch begutachteten Straftäter ständig zunahm. Immer häufiger stellten Untersuchungsbehörden und Gerichte die «Normalität» von Delinquenten in Frage. So entwickelte sich parallel zur heftigen Strafrechtsdebatte eine gut eingespielte Zusammenarbeit von Strafjustiz und Psychiatrie auf Vollzugsebene.

 

Die vorliegende Studie nimmt diese widersprüchliche Ausgangslage zum Anlass, die forensisch-psychiatrische Praxis im Kanton Bern um die Jahrhundertwende zu analysieren. Sie geht von derAnnahme aus, dass die rechtspolitischen Interventionen der Irrenärzte vor dem Hintergrund ihrer alltäglichen Erfahrungen als psychiatrische Experten im Strafverfahren zu verstehen sind. Strafjustiz und Psychiatrie werden als zwei unterschiedlich strukturierte Bezugssysteme betrachtet, die im Justizalltag effizient aber nicht ohne Konflikte miteinander kooperierten. Das semantische Bezugssystem der Strafjustiz beruhte auf der Struktur von «Schuld/Unschuld», dasjenige der Psychiatrie dagegen auf der Struktur von «Krankheit/Gesundheit». Psychiatrische Gutachten deuteten im Auftrag der Justiz kriminelles Verhalten. Diese behielt sich jedoch die letzte Entscheidung über die begutachteten Delinquenten vor. Die Analyse psychiatrischer Gutachten aus Gerichtsakten der Berner Geschworenengerichte erlaubt, die Interaktion von Strafjustiz und Psychiatrie auf einer Mikroebene zu untersuchen. Im Zentrum der Studie stehen drei Fragenkomplexe: Ein erster Komplex beschäftigt sich mit dem rechtlichen und wissenschaftlichen Dispositiv der forensischen Psychiatrie im Kanton Bern. Damit verknüpft ist die Frage nach der gesetzlichen Rollenverteilung von Strafjustiz und Psychiatrie. Ein zweiter Komplex unternimmt eine Analyse der Entwicklung der forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton Bern. Dabei soll das effektive Gewicht der psychiatrischen Experten im Strafverfahren eruiert werden. Ein letzter Komplex untersucht die forensisch-psychiatrische Praxis als Ort de Produktion von Deutungsmustern über straffällig gewordene Menschen.

 

Das Dispositiv der forensisch-psychiatrischen Praxis im Kanton Bern war durch einen raschen Ausbau der psychiatrischen Infrastruktur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Entstehung eines spezialisierten forensisch-psychiatrischen Diskurses geprägt. Allerdings trugen die gesetzlichen Bestimmungen den Bedürfnissen der Berner Irrenärzte nur zum Teil Rechnung. Dies verhinderte jedoch nicht, dass sich die forensisch-psychiatrische Praxis nach 1890 beträchtlich ausweitete. Wurden 1893 1,7 Prozent der Angeklagten vor den Berner Geschworenengerichten psychiatrisch beurteilt, waren es 1908 bereits 9,1 Prozent. Diese ntwicklung ist einerseits auf einen Strukturwandel des psychiatrischen Wissens, der eine Ausweitung des Krankheitsbegriffs mit sich brachte, andererseits auf eine verstärkte Sensibilität der Justizbehörden gegenüber «abnormen» Delinquenten zurückzuführen. Die wachsende Kooperation von Strafjustiz und Psychiatrie kommt ebenfalls bei der Verhängung von sichernden Massnahmen gegen nicht zurechnungsfähige Straftäter zum Ausdruck. Die von den psychiatrischen Experten verwendeten Deutungsmuster von kriminellem Verhalten zeichneten sich durch eine Fokussierung auf die «Individualität» des Exploranden aus. Dies kann exemplarisch anhand des Konzepts der «Psychopathie» gezeigt werden, mit dem sich kriminelles Verhalten weitgehend pathologisieren liess. Psychiatrische Deutungsmuster schlossen eng an die Praxis der Strafjustiz und die Wahrnehmung von medizinischen Laien an. Sie systematisierten aber die alltägliche Wahrnehmung von kriminellem Verhalten zu spezifischen Deutungen. Im Gegensatz zur Wahrnehmung von medizinischen Laien isolierten sie kriminelles Verhalten aus einem sozialen Kontext und führten es auf ein biologisches Substrat zurück. Bei der Konstruktion von «Abnormität» bezogen sich psychiatrische Gutachten immer wieder auf normative Vorstellungen der bürgerlichen Sozial- und Geschlechterordnung. Zu Eigenschaften, welche die «Normalität» eines Menschen ausmachen sollten, gehörten insbesondere zweckrationales Handeln, Trieb- und Affektkontrolle sowie Heterosexualität. Psychiatrische Deutungsmuster lieferten der Justiz zudem die Legitimation zur Verwahrung von «gefährlichen Individuen».

 

Insgesamt vermag die Analyse der drei Fragenkomplexe eine beträchtliche Ausweitung der forensisch-psychiatrischen Praxis zwischen 1890 und 1910 aufzuzeigen. Im Kanton Bern hat sich die viel diskutierte Strategie einer teilweisen Medikalisierung des Strafrechts im Rahmen der bestehenden Gesetzgebung zunehmend durchgesetzt. Die forensische Tätigkeit wurde um die Jahrhundertwende zu einem bedeutenden Feld der Professionalisierungsstrategien der Schweizer Irrenärzte in bezug auf ihre Anerkennung durch andere Berufsgruppen und die Entwicklung neuer beruflicher Leitbilder. Wenn die Strafrechtsdebatte kurz vor dem Ersten Weltkrieg an Heftigkeit verlor, so war dies nicht ein Zeichen der Schwächung der Psychiatrie, sondern vielmehr Ausdruck der Anerkennung ihrer Kompetenz bei der gesellschaftlichen Bewältigung von Kriminalität

Accès au document

Bibliothèque

Les travaux académiques sont déposés à la bibliothèque de l'université concernée. Cherchez le travail dans le catalogue collectif des bibliothèques suisses