Mit Bäumen gegen Fluten. Überschwemmungsrisiko und Forstwesen während des 18. und 19. Jahrhunderts

Nom de l'auteur
Daniel
Brändli
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
1997/1998
Abstract

Bevölkerungsexplosion, der Raubbau an Gebirgswäldern, ungehemmter Abfluss der Niederschläge, als Folge davon verheerende Überschwemmungen in den Tälern. Diese Kausalkette - fortan als Abholzungsparadigma bezeichnet - hat in den vergangenen Jahren auf dem Indischen Subkontinent zu politischen Auseinandersetzungen geführt. Die Bevölkerung Nepals wurden an den Überschwemmungen von Ganges und Brahmaputra mitschuldig gesprochen, weil sie angeblich die Wälder im Himalaja zusehends zerstörte. Heute weiss man, dass einerseits die Abholzungen ein viel kleineres Ausmass annehmen als befürchtet, und dass andererseits auf der makroskopischen Ebene kein signifikanter Zusammenhang zwischen Waldrodung und Überschwemmung besteht. 

 

Die Lizentiatsarbeit untersucht einen ähnlich gelagerten Fall: Bereits im 19. Jahrhundert hat sich das Abholzungsparadigma im Alpenraum als Erklärungsmuster für alpine Überschwemmungen durchgesetzt. In der Schweiz fand das Abholzungsparadigma im eidgenössischen Forstpolizeigesetz von 1876 seinen politischen Niederschlag. Darin wurde dem Bund die Oberaufsicht über die Wälder in den Bergkantonen zugeteilt. Durch die Ausschüttung von Subventionen für Aufforstungen im Gebirge wurde den Förstern ein neues Betätigungsfeld zugewiesen und ihr Berufsstand dadurch gestärkt. 

Fragestellung:
Die Arbeit versucht den wissenschaftlichen und politischen Diskurs des Abholzungsparadigmas im Alpenraum für das 18. und 19. Jahrhundert nachzuzeichnen. Welche Erklärungsmuster hatten für Überschwemmungskatastrophen zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestanden? Was wird im Anschluss an eine Überschwemmungskatastrophe als auslösende Ursache identifiziert? Über welche Kanäle wurde das Wissen einer nachhaltigen Waldnutzung zur Überschwemmungsbekämpfung in den Alpenländern verbreitet? Wann wurde das Abholzungsparadigma aus dem innerwissenschaftlichen Diskurs in die politische Arena getragen? Welche Interessengruppen waren an der Aufnahme von Forstschutzmassnahmen in die nationale Gesetzgebung beteiligt, welche versuchten den politischen  urchbruch zu verhindern? Unter welchen äusseren Bedingungen setzte sich das Abholzungsparadigma schliesslich durch?
Als Ausgangsthese wurde die Behauptung aufgestellt, die staatliche Ein- und Durchsetzung von Aufforstungsmassnahmen im 19. Jahrhundert widerspiegle den Übergang von einer ausschliesslich die Natur umgestaltenden Symptombekämpfung (wasserbauliche Massnahmen) zu einem an Ursachen orientierten Risikomanagement, welches die unbedachte Bewirtschaftung der Natur durch den Menschen in Frage stellte. 

 

Methode:
Theoretisch orientiert sich die Untersuchung am aktuellen Risikodiskurs. Im ausgehenden zweiten Jahrtausend leben wir in einer Risikogesellschaft. Insbesondere Naturkatastrophen werden heute eher als Risiken wahrgenommen, die zu beeinflussen sind, nicht als Gefahren, denen man ausgeliefert ist. In der Geschichte unterlag die Risikowahrnehmung jedoch starken Veränderungen. Mentalität, Religion und Moral oder das Naturverständnis der Menschen sind Elemente eines sozialen und individuellen Filters, durch welchen Naturerscheinungen betrachtet und bewertet werden. Die Aufarbeitung des  wissenschaftlichen Diskurses orientiert sich an Thomas Kuhns Paradigmawechsel in den Naturwissenschaften. Der politische Diskurs wird mit Hilfe der von Niklas Luhmann entwickelten Erfolgsgeschichte eines politischen Themas interpretiert. 

 

Quellen:
Der wissenschaftliche Diskurs zum Themenbereich Wald, Wasser und Klima im 18. und 19. Jahrhun dert wird anhand des umfangreichen publizierten Schriftgutes aus Frankreich, Italien, Deutschland, Österreich und der Schweiz nachgezeichnet. Der öffentliche und politische Diskurs in der Schweiz wird in erster Linie anhand der Schweizerischen Zeitschrift für das Forstwesen rekonstruiert, die häufig einschlägige Passagen aus der Tagespresse wiedergibt und dazu Stellung nimmt. 

 

Ergebnisse:
Bereits im 18. Jahrhundert hatte mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft und unter dem Einfluss der Aufklärung ein Übergang von religiös-moralischen zu physikalisch-rationalen Erklärungsansätzen stattgefunden, der die Entwicklung von technischen Massnahmen erst ermöglicht hatte. Dieser Wechsel hatte sich jedoch erst innerhalb einer kleinen wissenschaftlichen Öffentlichkeit manifestiert, wobei der weitaus grösste Teil der Bevölkerung davon noch unberührt blieb. Die ausschlaggebenden Erkenntnisse über die Wechselwirkungen von Wald und Wasser sind von Experten der Verwaltung der "Ponts et Chaussees" im späten 18. Jahrhundert in den französischen Pyrenäen gewonnen worden. Anstoss zu ihren Untersuchungen gab eine Häufung von Überschwemmungskatastrophen in den 1770er Jahren. Im Gegensatz zur Schweiz war gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Wissen um die ökologischen Funktionen des Waldes in Kreisen der französischen Wissenschaft zum Allgemeingut geworden. Dies bezeugen die verschiedenen Anstrengungen der franzö­ sischen Verwaltung zur Wiederaufforstung von Raubbaugebieten. 

 

Die junge Forstwissenschaft in der Schweiz griff auf die einschlägigen französischen Arbeiten zurück. Im Zeitraum von 1834 bis 1872 wurden die Alpentäler der Schweiz nicht weniger als sechs Mal durch katastrophale Überschwemmungen heimgesucht. Hierbei handelte es sich um eine einmalige Zäsur, die in der Klimageschichte der Schweiz ihresgleichen sucht. Die staatlichen Stellen gerieten unter Zug­ zwang. Die aus diesem Anlass angeforderten Expertengutachten hoben immer deutlicher die angeblich ursächliche Beziehung zwischen dem Raubbau an den Gebirgswäldern und den Überschwemmungen hervor. 

 

Wesentlich für den politischen Erfolg des Abholzungsparadigmas war schliesslich dessen geschickte Instrumentalisierung durch den Forstverein anlässlich der katastrophalen Überschwemmung von 1868. Bereits in den 1850er Jahren hatte der Forstverein die Kritik am Raubbau in den Alpen zur sogenannten Alpenplage hochstilisiert und sich deren Bekämpfung in die Statuten geschrieben. Namhafte Experten - und das macht die Sache so brisant - waren sich jedoch darüber einig, dass die Ursache der Katastrophe von 1868 primär in der Niederschlagsvariabilität zu suchen sei und die Entwaldung nur als sekundäre Ursache zu betrachten sei. Die Wortführer des Forstvereins verkürzten die Katastrophenursache in einer grossangelegten Werbekampagne für ein gesamtschweizerisches Forstgesetz bewusst auf den monokausalen Zusammenhang zwischen Abholzung und Überschwemmungen. Die Öffentliche Meinung war nach der wirtschaftlichen und für viele auch persönlichen Tragödie von 1868 besonders empfänglich für griffige Erklärungen. Die junge Forstwirtschaft hatte schliesslich auch die Überschwemmung von 1872 zweckdienlich interpretiert und ihren Interessen die nötige politische Schubkraft verliehen. Das Forstgesetz wurde 1876 erfolgreich verabschiedet. 

 

 

 

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