Das von der Zapatistischen Armee zur Nationalen Befreiung EZLN einberufene Nationale lndigene Forum rief in seiner Schlusserklärung vom 7. Januar 1996 dazu auf, mittels einer tiefgreifenden Reform des Staates die „Nation neu zu gründen". Dies mit dem Ziel, den „Mexikanerinnen und Mexikanern eine neue Magna Charta zu geben, die anerkennt, was sie sind und immer waren: eine aus sehr verschiedenen Völkern zusammengesetzte Gesellschaft''. Diese Forderung führt zur folgenden zentralen erkenntnisleitenden Fragestellung dieser Arbeit: Welche Stellung hatten die lndigenen im Prozess der Nationenbildung in Mexiko? Diese Fragestellung ist eng verknüpft mit der mexikanischen Geschichte. Darüber hinaus ergeben sich weitere Implikationen, die sowohl das historische Problem des Nationalismus, als auch Fragen nach möglichen Alternativen betreffen.
Zur Aufarbeitung dieser Grundproblematik wird im ersten Teil der Arbeit ein theoretisches Konzept entworfen, welches Nationalismus als „konstruktivistisches" Phänomen und die Konstruktion einer „Nation" als hegemonialen Prozess begreift. Nationalstaaten werden in dieser Arbeit als „Kulturfabriken" zur Herstellung des kulturellen Produkts „Nation" verstanden. Eine „Nation" ist kein statisches Konzept, sondern wird fortlaufend im lichte der Machtverhältnisse von interessengeleiteten sozialen Akteurinnen konstruiert, erfunden, umstritten und verändert. Dieser Prozess lässt sich mit Gramsci als Kampf um die Hegemonie beschreiben. Letztendlich ist die „Nation" immer Ausdruck des gegenwärtigen Standes der hegemonialen Verhältnisse innerhalb einer nationalen Gemeinschaft.
Ausgehend von der mexikanischen Unabhängigkeitsbewegung wird in dieser Arbeit die Entstehung der mexikanischen Nation als hegemoniales System nachgezeichnet. Von entscheidender Bedeutung war die Revolution und die daran anschliessende Konsolidierungs- und lnstitutionalisierungsphase. In dieser Phase errang ein von der neuen staatstragenden mestizischen Mittelschicht geprägter und mythisch besetzter Nationenbegriff die kulturelle Hegemonie: die Nation entdeckte ihre mestizische Seele. Alternative, d.h. indigene Identitäten hatten in dieser Vorstellung keinen Platz und der revolutionäre Staat, der sich als Verkörperung der Nation verstand, leitete daraus die Verpflichtung ab, die nationale mestizische Identität mit allen Mitteln herzustellen. Den lndigenen blieb damit nur noch der Weg der vollständigen Assimilation unter Aufgabe ihrer eigenen Identität offen.
Dieses hegemoniale System erwies sich als erstaunlich stabil; einerseits weil sich die mexikanische Intelligenz lange in dessen Dienst stellte, und andererseits dank einer geschickten Mischung von sozial-reformerischer und populistischer Politik der Machthaber. Dieses hegemoniale System konnte so, wenn auch gepaart mit Kooptation, Repression und dem Enthaupten politischer Bewegungen, seine Herrschaft bis Ende der sechziger Jahre aufrechterhalten. Erst das Massaker während der Studentinnenbewegung im Jahre 1968 führte zu einem Bruch, der dieses hegemoniale System grundsätzlich in Frage stellte. Viele Intellektuelle wandten sich ab und entwarfen kritische Gegenmodelle zum hegemonialen Nationenkonzept.
In der folgenden Krise entstand auch eine staatskritische Anthropologie, welche den vorherrschenden integrativen Nationenbegriff ablehnte und die Emanzipation der lndigenen unterstützte. Parallel dazu entwickelte sich eine neue indianische Bewegung mit einer eigenen indianischen Ideologie. Die indianischen Organisationen forderten das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie, ohne jedoch die Integration in die nationale Gesellschaft vollständig zu negieren. Ihr Kampf war ein Kampf um das Recht auf Verschiedenheit, um einen politisch anerkannten kulturellen Pluralismus, d.h. um die verfassungsmässige Verankerung Mexikos als multiethnische Nation. Hier setzte auch der Kampf der EZLN an.
Im Zentrum der neo-zapatistischen Ideologie stehen die Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Diese ist Ausdruck der Forderung nach Anerkennung des Menschseins der lndigenen sowohl durch den Staat als auch der nationalen Gesellschaft. Darauf begründet sich auch die Forderung nach Autonomie als Ausdruck der Anerkennung des kulturellen Pluralismus Mexikos. Die lndigenen sollten nicht mehr verdrängt werden und die Nation sollte nun ihre verlorenen Kinder anerkennen. Dennoch lässt sich der zapatistische Aufstand nicht auf die indigene Frage reduzieren. Deren Kampf war von Anfang an auf die ganze Nation ausgerichtet und lässt sich als Kampf um die Definitionsmacht über das mexikanische Nationenkonzept bestimmen. Es geht nicht um Separatismus, sondern um die Umformulierung des mexikanischen Nationenprojekts. Die Neo-Zapatistlnnen kämpfen gegen einen integrativen und vereinheitlichenden Nationalismus und für einen multikulturellen Nationenbegriff, der den lndigenen eine autonome und gleichzeitig teilnehmende Position an der nationalen Gesellschaft eröffen soll.