Das "Aergernis" der Reformation

Nom de l'auteur
Beat
Hodler
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Peter
Blickle
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
1992/1993
Abstract

Die vorliegende Arbeit war nicht von Anfang an auf das "Ärgernis" fixiert. Den Ausgangspunkt bildete meine Lizentiatsarbeit, die einem besonders gut dokumentierten Fall eines reformatorischen Bildersturms gewidmet war. Schon in der Anfangsphase der Dissertation verlagerte sich aber das Interesse zunehmend von den Bilderstürmen selbst auf die überaus kontroversen zeitgenössischen Deutungen dieser Bilderstürme sowie anderer Normbrüche. Als erstes wurden Stichproben in Flugschriften, Prozessakten, Beschwerdeschriften, Liedern, Gedichten, Chroniken, Lebensbeschreibungen und theologischen Traktaten herangezogen. Der Argernisbegriff erschien darin so häufig und an so zentraler Stelle, dass eine Analyse als sinnvoll erschien.

Eine erste Stichprobe wurde in den "Akten zur Zürcher Reformation" gemacht. Dabei zeigte sich, dass das "Argemis" in der Argumentation ganz verschiedener Lager auftaucht. So wendet sich beispielsweise der Bischof von Konstanz 1522 gegen Fastenbrüche mit der Begründung, diese gereichten "zuo ärgemuss andern menschen". Schon 1523 hat sich die Reformation aber durchgesetzt, und ein Zürcher Mandat zur Messe schreibt vor, dass nunmehr evangelisch gepredigt werden müsse, damit niemand "verärgert" werde. In den Jahren darauf wird der Begriff auch in der Auseinandersetzung mit den Täufern verwendet.Das Todesurteil gegen Felix Manz im Jahre 1527 wird unter anderem damit begründet, er habe "ärgemuss" erregt. Das Zürcher Beispiel bildet keine Ausnahme. Der Begriff begegnet ebenfalls in den Konflikten um die Wittenberger Reformation überaus häufig. Dies fiel offenbar auch schon den Zeitgenossen auf. So beklagt beispielsweise Karlstadt, dass seine Gegner "teglich schreyen" vom "ergemüß".

Es lässt sich in der Tat zeigen, dass in den meisten grossen kirchenpolitischen Debatten jener Zeit die genannte Begrifflichkeit verwendet wurde. Ob man nun den Lutherprozess, die innerreformatorischen Auseinandersetzungen um Kirchenzucht, den Kampf protestantischer Prädikanten gegen das "Interim", schliesslich die Attacken der Täufer gegen die sich etablierende neue protestantische Kirche beobachtet: Immer wieder wird man auf Texte stossen, die mit dem Argemis operieren.

Wie lässt sich die Attraktivität und Brisanz dieses Begriffs erklären?

Ein erstes, pl}ilologisch ausgerichtetes Kapitel geht aus von einer ausführlichen Unter suchung des Argemisbegriffs bei Luther. Im Tübinger Lutherarchiv, das auf etwa drei Millignen Karteikarten die ganze Abteilung "Schriften'' der Weimarer Lutherausgabe erfasst, ist "Argemis" 496mal und "ärgern" 470mal nachgewiesen. In einer ausführlichen Kontextanalyse erwies sich "Argemis" im Sprachgebrauch des Wittenberger Reformators als Derivat von "arg", "ärger werden/machen" und "ärgern". Jemanden "ergem" heisst, ihn buchstäblich "erger", also schlechter machen. Das Ergebni dieses destruktiven Prozesses ist das der "Besserung" entgegengesetzte "Ergernis". Der Argemisbegriff wird sowohl im materiellen wie im spirituellen Bereich benutzt. Praktisch immer hat er eine starke Bedeutung von "Verderben", "Zerstörung".

Diese Verwendung beruht nicht etwa auf einer Neuschöpfung der Reformationszeit oder gar Luthers. Die angegebene Bedeutung, die heute kaum mehr geläufig ist, lässt sich nicht nur bei Zeitgenossen Luthers, sondern durchaus schon vor der Reformation nachweisen. Zahlreiche Belege aus dem Bereich des Rechts lassen sich für die Verwendung im materiellen Sinn geben: Man soll ein Gut nicht "ärgern", sondern "bessern"; ein Pferd, ein Tisch, ein Werkzeug können "geärgert" werden. Aber auch für den Gebrauch im spirituellen Bereich existieren genügend Hinweise, etwa bei den Mystikern, die "Ergemis" für das kirchenlateinische "scandalum" benützen, also mit den Bedeutungen von Glaubenshindernis, Zerstörung im seelischen Bereich.

"Ärgernis" war zumindest seit dem Spätmittelalter ein auch in der Volkssprache geläufiger Begriff. Diese Tatsache allein ist freilich für sich genommen noch keine hinreichende Erklärung für seine Atttaktivität in _der Reformationszeit. Eine wichtige Rolle muss damals gespielt haben, dass "Argernis" auch ein wichtiges biblisches Konzept trägt. In deutschsprachigen Bibelübersetzungen, und zwar auch schon in vorlutherischen, steht "Argemis" nämlich häufig für das griechische "skandalon''. Letzterem kommt besonders im Neuen Testament grosse Bedeutung zu. Zum einen warnt Jesus davor, einen seiner "Kleinen" zu "verärgern'.'. (Matth. 18, 6 ff.), zum andern wird Jesus selber in der sündigen Welt immer wieder zum "Argernis" (fytatth. 15, 12). Besonders zur paulinischen Theologie gehört die Rede vom unaufhebbaren "Argemis des Kreuzes" (z.B. Gal. 5, 11). Gerade durch seine Armut und seinen elenden Tod scheint der Sohn Gottes seine eigenen messianischen Ansprüche Lügen zu strafen. Damit wird er selber den kleingläubigen Menschen zum Glaubenshindernis, zum Stein des Anstosses und "zum felß des ergemis" (1. Petrus 2, 6 ff.).

Diese und andere "Ärgernisstellen" werden in polemischen Schriften der frühen Reformationszeit immer wieder zur Rechtfertigung der durch die evangelische Predigt ausgelösten Konflikte angeführt. Die Predigt von Gottes Wort, heisst es beispielsweise in einer Wittenberger Schrift von 1521, müsse ganz zwangsläufig "gross und viel ergemis" hervorrufen. Und in einer Flugschrift von Otto Brunfels (1523) wird darauf hingewiesen, dass die Heilige Schrift Jesus als "stein der ergernüss" bezeichnet habe.

Der Ärgernisbegriff wird aber nicht nur bei solch prinzipiellen Aussagen verwendet. Betrachtet man die Abhandlungen Zwinglis zur Abschaffung von Bildern und Messen, die sorgfältig abwägenden Uberlegungen von Erasmus zu Basler Fastenbrüchen, die ausführliche Rechtfertigung des aus dem Kloster entlaufenen Braunschweiger Klerikers Kruse: Uberall wird eine Argumentatio verwendet, die das richtige, gottgemässe Handeln im Koordinatensystem der Begriffe "Argernis" und "Besserung" verortet. Geläufig sind folgende Uberlegungen: Auf das Argernis der "Schwachen" ist Rücksicht zu nehmen, freilich nur solange, bis es dank genügend Predigt aufgelöst ist; durch das Argernis der "Pharisäer" kann und darf sich der Christ nicht vom gottgemässen Handeln abbringen lassen; der wahre Gläubige wird sich, geleitet von seiner Nächstenliebe, davor hüten, seine Freiheit Jn einer Weise zu gebrauchen, die den "Kleinen" ein Argernis geben könnte; dort, wo das Argemis aber bloss ein "genommenes" ist, muss der Christ seinem Glauben ohne Einschränkungen nachleben.

Die genannten Kategorien sind die Grundelemente einer sozialethischen "Lehre vom Ärgernis", einer "doctrina de scandalo". Die grossen reformatorischen Theologen haben je eigene solche Argernislehren oder zumindest Ansätze dazu formuliert. Luther leitet entsprechende Ausserungen ein mit dem vielsagenden Satz: "Auff das aber das junge vokk, so nicht weiß, was ergemiß sei, solch wart desto besser verstehen, wollen wir ein wenig grob und deutlich darvon reden". In den "Loci" von Melanchthon findet sich ein ganzes Kapitel "de scandalo". Karlstadt verfasst eine Flugschrift mit dem Titel "Ob man gemach faren / und der ergemüssen der schwachen verschonen soll / in sachen so gottis willen angehn". Zwinglis "Von Erkiesen und Freiheit der Speisen" enthält einen ausführlichen Abschnitt "Von ergemus oder verbösrung", und in seinem "Commentarius" findet sich ein ganzes Kapitel "de scandalo". Ausserdem beschäftigen sich die Arikel 47 bis 49 der Zürcher Schlussreden von 1523, die 10. Schlussrede der Berner Disputation sowie ein Abschnitt der Nürnberger Lehrartikel mit dem "Ergemus". Nicht nur in.deutscher und lateinischer Sprache wurde damals über das Argernis diskutiert: Calvins Ausserungen zum "scandalum" wurden zuerst in die französische ("Des Scandales"), später in die niederländische Sprache übersetzt. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch der refonnnahe spanische Theologe de Valdez. In seinen "110 Consideraciones", die bereits im 16. Jahrhundert in italienischer (1550), spanischer (1558) und französischer (1563) Sprache gedruckt wurden, befasst sich ein Kapitel mit der Frage, was unter "Argernis" zu verstehen sei und wie sich Christen dem Argemis gegenüber zu beneh­ men hätten.

All diese Lehren, die mehr oder weniger deutlich zur Unterstützung der reformatorischen Bewegung ins Feld geführt wurden, stehen paradoxerweise in einer scholastischen Tradition. Ganz unbefangen werden nämlich in ihnen die Kategorien des "scandalurn activum" und "passivum" sowie des "scandaJum pusillorum'' und "pharisaeorum" verwendet, die sich bereits in der Summa Theologica" des Thomas..von Aquin (quaestio 43 der lla llae) finden. Die damit angedeutete Kontinuität lässt sich im übrigen bis ins 18. Jahrhundert belegen. Noch Thornasius polemisiert gegen die Lehre "de scandalo", die eine ''päpstische" Erfindung gewesen sei und seit langer Zeit ein überaus erfolgreiches Instrument klerikaler Manipula­ tion darstelle.

Die Analyse des Ärgernisbegriffs zeigt zum einen exemplarisch, wie in der Reformationszeit biblische in politische Sprache übertragen werden konnte. Zum andern belegt sie aber auch ein breites Vorkommen der bisher wenig bekannten Argernislehren sozialethischer Ausrichtung im vormodernen Europa. Ausgehend von diesem Befund ist ein Quereinstieg in eine auf den ersten Blick ganz andere Diskussion möglich: Seit einigen Jahren intensiviert sich das soziologische Interesse für das aktuelle Phänomen des politischen Skandals, und der Prozess der Theoriebildung ist in vollem Gange. Eine kritische Auseinandersetzung mit der bisher kaum zur Kenntnis genommenen Tradition der "doctrina de scandalo" könnte wohl der neuentstehenden Skandaltheorie unerwartete Impulse ve.rmitteln.

 

 

 

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