Europäische Integration,Dekolonisation,Eurafrika. Eine historischen Analyse über die Entstehungsbedingungen der Eurafrikanischen Gemeinschaft von der Weltwirtschaftskrise bis zum Jaunde-Vertrag,1929-1963

Nom de l'auteur
Thomas
Moser
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Judit
Garamvölgyi
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
1996/1997
Abstract

1. leitende Fragestellungen

Eurafrika als Mythos und geopolitisches Konzept taucht spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahr hundert in der politischen Literatur auf. Die je nach Epoche und Interessenlage unterschiedlich interpretierte und reklamierte Komplementarität Europas und Afrikas spielte aber nicht nur im Rahmen der französischen Kolonialpolitik, sondern spielt im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses seit dem Zweiten Weltkrieg eine mindestens ebenso bedeutsame realhistorische Rolle.

 

Umso erstaunlicher, dass die besonders seit 1987 auch auf archivalischer Grundlage betriebende Integrationsforschung sich dieser Frage kaum oder allenfalls nur sehr am Rande genähert hat. Die Hauptaufgabe dieser Dissertation musste somit lauten, die bisher getrennt betriebenen Integrations- und Dekolonisationsforschungen zusammenzuführen, konkret: nach der Interdependenz zwischen Integration und Dekolonisation zu fragen, die mit Th. Schieder als prozessuale Revolutionen begriffene, bis in die Gegenwart andauernde säkulare Vorgänge aufzufassen sind. Damit dieser komplexe Forschungsansatz und - anspruch eingelöst und mit möglichst präzisen Fragen an die Quellen heran getreten werden konnte, mussten, im Rahmen einer von A. Hillgruber 1973 postulierten und gemäss H.-U. Wehler bis heute unerfüllt gebliebenen „Modemen Politikgeschichte", nicht nur die Begrifflichkeit (Integration, Dekolonisation, Modernisierung, usw.), theoretische Ansätze und der Forschungsstand in einem umfangreichen Einleitungskapitel diskutiert, sondern ebenso die Nachbardisziplinen Politikwissenschaft, Entwicklungsökonomie und Völkerrecht in die Forschungsstrategie einbezogen werden.

 

Nach Befragung und Analyse der Quellen kulminiert die Arbeit in der These, dass mit den Römer Verträgen von 1957 nicht nur die EWG, sondern zugleich eine Eurafrikanische Gemeinschaft begründet worden ist, die ihre dauerhafte Ausgestaltung zuerst im Vertrag von Jaunde (1963) und seit dem Bei tritt Grossbritanniens zur EG im sogenannten Lerne-System gefunden hat.

 

2. Bearbeitete Quellenbestände

Angesichts der äusserst mageren Literaturlage stellt diese Arbeit vorwiegend auf Archivalien ab. Um den Prozesscharakter von der Konzeptualisierung des „komplexen Integrationsleitbildes" Eurafrika bis zur realpolitischen Umsetzung durch die einigungswilligen Akteure und Akteursgruppen plausibel darstellen und erklären zu können, wird für diese Arbeit auf die Art und Weise der Entstehung der Entscheidungs- und Verhandlungsunterlagen sowie auf den jeweiligen Ablauf der Verhandlungen, und zwar sowohl auf Regierungs- als auch auf Expertenebene, ein ganz besonderes Augenmerk geworfen.

 

Somit stellte sich als eines der Hauptprobleme, wie bei fast jeder Arbeit zur Zeitgeschichte, die Unmenge der bei einer solchen Fragestellung denkbaren Quellen - bei einem vernünftigen Verhältnis von Aufwand und Ertrag - zusammenzutragen, zu sichten und vor allem zu selektionieren. Die besonders ausführliche Darstellung der französischen und teilweise der „afrikanischen" Positionen und Sichtweisen hatte z:v..1ar eine erhebliche inhaltliche Einschränkung der weitreichenden Fragestellung nach der Interdependenz von Integration und Dekolonisation zur Folge, war aber dem Untersuchungsgegen stand durchaus angemessen, weil die Re-Europäisierung der Kolonialmacht Frankreich als der geschichtsmächtigste Faktor für die Gründung der Eurafrikanischen Gemeinschaft bewertet werden muss.

 

Im Zentrum standen dabei zunächst die Akten der Gemeinschaft selbst, die im Historischen Archiv der Europäischen Gemeinschaften in Florenz zugänglich sind. Nebst einschlägigen Quellen der verschidenen Europabewegungen (auch ihrer nationalen Sektionen, insbesondere der französischen), der OEEC und den auf Microfiche vorliegenden Regierungsakten des Quai d'Orsay, spielten die Akten der DG VIII, derjenigen Kommission also, die von Brüssel aus für die Assoziierung mit den afrikanischen Staaten verantwortlich ist, nicht zuletzt deshalb eine herausragende Rolle, weil es sich dabei um einen der ersten, der historischen Forschung zugänglichen Quellenbestände einer supranationalen Institution handelt. Dieser supranationale Quellenkorpus dokumentiert für unsere Untersuchung u.a. die Multifunktionalität der Eurafrikanischen Gemeinschaft beim Übergang vom spät- zum postkolonialen Zeit alter, erhellt insbesondere die schwierige Zusammenarbeit der Kommission mit dem Ministerrat bzw. mit dem Rat sowie die etwas weniger problematische mit dem Europäischen Parlament bz:v..1. mit des sen Assoziierungsausschuss.

 

Für die eigentliche Vorgeschichte der Eurafrikanischen Gemeinschaft, die bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929 zurückverfolgt wird, standen danach die Nationalarchive zwangsläufig im Vordergrund des Interesses. Damit der allmähliche Wandel der französischen Kolonialpolitik(er) erfasst werden konnte, wurden die einschlägigen Bestände im Archiv des französischen Kolonialministerium in Aix-en-Provence bearbeitet.

 

 

Allein aus der Sicht der Gemeinschaft und der Nationalstaaten lässt sich aber die Realisierung des „komplexen Integrationsleitbildes" Eurafrikas in Form der Eurafrikanischen Gemeinschaft im Frühjahr 1957 nicht darstellen und plausibel erklären. Zusätzlich musste auch der Bedeutung der Persönlichkeit im Zusammenhang mit der europäischen Integration und Eurafrikas gebührend Rechnung getragen werden. Dafür erwies sich die Bearbeitung des reichhaltigen Materials in der Fondation Jean Mannet pour I' Europe in Lausanne als unverzichtbar. Erst jetzt konnte die historische Rolle der einigungswilligen Akteure und Akteursgruppen in dieser "prozessualen Revolution" adäquat erfasst werden.

 

Als fruchtbar erwies sich schliesslich der Gang ins Schweizerische Bundesarchiv, haben doch die schweizerischen Aussenposten in den betroffenen Städten, v.a. aber im Rahmen der OEEC, den Integrationsprozess - in Paris als Insider, in Brüssel selbstredend als Outsider - im Hinblick auf das Verhältnis zu den französischen und belgischen Kolonien aufmerksam verfolgt. Hier sind m.E. entscheidende Anfänge der Entwicklungspolitik der Schweiz zu sehen.

 

Diese Archivalien mussten für den Untersuchungszeitraum durch gedruckte Quellen, wie Erklärungen, Reden, Stellungnahmen der Regierungsvertreter und der Politiker ergänzt werden. Die gleiche Aufgabe hatten die Sitzungsprotokolle der nationalen Parlamente, des Europarates und der Versammlung der EGKS, die veröffentlichten Studien von der OEEC und vom Sekretariat des Europarates sowie die aussen-, kolonial- und europapolitischen Dokumentensammlungen zu erfüllen. Den zeitgenössischen Diskurs über Eurafrika vermögen dagegen die Aufsätze in Zeitschriften, die Zeitungsartikel und andere publizistische Beiträge zusätzlich und letztlich am besten zu belegen. Dabei konnte längst nicht das gesamte in Frage kommende Pressematerial ausgewertet werden. Dank der gezielten Auswahl und Auswertung zeitgenössischer Wirtschafts- und Kolonialzeitschriften, von Tageszeitungen und aussen politischen Zeitschriften, die alle nach dem Kriterium der grösstmöglichen politischen Bedeutung aus gewählt wurden, konnte derjenige Diskurs analysiert und rekonstruiert werden, welcher die für das Zustandekommen der Eurafrikanischen Gemeinschaft zentrale Relance eurafricaine eindrücklich belegt.

 

3. Sechs knappe Antworten auf sechs weitreichende Fragen

Zum „komplexen Integrationsleitbild" Eurafrika Eurafrika war ein von der Forschung bisher nicht zur Kenntnis genommenes Konzept, das aus dem Zusammenwirken von Kaltem Krieg und Dritter Dekolonisation unter den Strukturbedingungen des "Goldenen Zeitalters" (E. Habsbawm) an politischer Bedeutung zulegte und ein konstituierendes Elment der europäischen Integration darstellt. Die verschiedensten Akteure und Akteursgruppen verbanden und verbinden in einem seit den 1880er Jahren bis heute andauernden historischen Entwicklungsprozess die unterschiedlichsten geopolitischen, wirtschaftspolitischen oder kulturphilosophischen Erwartungen, Wertvorstellungen und Absichten mit dem Leitbild Eurafrika. Dabei ist die „richtige" Verknüpfung der strukturbildenden Elemente der Massstab für die Durchsetzungsfähigkeit des Leitbildes in der Realpolitik. Im untersuchten Zeitraum bestimmten Frankreich und die Suez-Krise dieses Mischungsverhältnis.

 

Zu den Akteuren und Akteursgruppen

So kam es auf die Ausnutzung der gegebenen historischen Konstellation durch die einigungswilligen Akteure und Akteursgruppen an. Eine entscheidende Voraussetzung für die Realisierung Eurafrikas war die Relance eurafricaine. Ihr lag spätestens seit dem Frühsommer 1952 ein von den Modernisten und den Befreiungspolitikern der Französischen Union vorangetriebener gesellschaftlicher Lernprzess zugrunde, bei dem die relevanten Eliten und die Bevölkerungen lernten, die wirtschafts-, dekolnisations- und entwicklungspolitischen Anliegen in einem Gemeinschaftsprozess zu verbinden. "Man" lernte, dass der Aufbau Europas und die Auflösung der Kolonialreiche in einer wechselseitigen Abhängigkeit zueinander standen.

 

Zur Bedeutung der kolonialen Frage für den europäischen Integrationsprozess

Die koloniale Frage war bis Mitte der 1950er Jahre ein bremsender, danach aber ein beschleunigender Faktor für den europäischen Integrationsprozess, die wie alle Integrationsprobleme nach Lösungen verlangte und im Sinne eines „Spill-over" die wirtschaftliche und politische Vergemeinschaftung Eurpas und Afrikas förderte, sofern sie von den einigungswilligen Akteuren wahrgenommen, akzeptiert und problematisiert wurde.

 

Zur Multifunktionalität der Eurafrikanischen Gemeinschaft

Dank der Weiterentwicklung der im Römer Vertrag festgehaltenen Assoziierungsbestimmungen zu einem supranationalen „komplexen Integrationsleitbild" konnte die Eurafrikanische Gemeinschaft swohl für die Integration als auch für die Dekolonisation beim Übergang vom spät- zum postkolonialen Zeitalter evolutionäre Impulse vermitteln, die im Interesse der Stabilisierung dieser prozessualen Rvolution auch genutzt wurden.

 

Zur Rolle des Nationalstaates

Die „eurafrikanische Integration" schwächte den Kolonialstaat und stärkte sowohl den europäischen als auch den afrikanischen Nationalstaat. Dabei spielte aber die Tatsache, dass sich im Rahmen des Integrationsprozesses eine „doppelte Loyalität'' (A.S. Milward) entwickelte, diejenige zur sich restaurieren den Nation einerseits, zu den Institutionen der Eurafrikanischen Gemeinschaft andererseits, die entscheidende Rolle. Dank der Umwandlung der Kolonial- in eine Entwicklungspolitik konnte der Natinalstaat die Loyalität seiner Staatsbürger zurückgewinnen. Dieser Prozess hing jedoch in einem entscheidenden Masse von der Zunahme der Loyalität gegenüber der Gemeinschaft ab. Ob diese Loyalitäten zur Gemeinschaft die älteren Loyalitäten zum Nationalstaat zu ersetzen vermochten bzw. vermögen, konnte nicht beantwortet werden.

 

Zur ,,Weltpolitik''

Die Wirkungen der Eurafrikanischen Gemeinschaft auf die internationalen Beziehungen waren ambivalent: Die Eurafrikanische Gemeinschaft beseitigte den Kolonialismus, vertiefte aber das wirtschaftspolitische Schisma in Westeuropa; sie förderte regionale Zusammenschlüsse in Afrika, akzentuierte aber unter den Vorzeichen des Kalten Krieges gleichzeitig die Blockbildung; sie wurde von den USA als Beitrag zur Abschwächung ihres antikolonialistischen Dilemmas und als Einbezug Afrikas in den Westblock begrüsst, von der Sowjetunion aber als „Kollektiver Kolonialismus", als Werkzeug des Monopolkapitalismus und damit als Teil der westlichen Blockbildung gesehen; und die Assoziierten begrüssten die Gemeinschaft als Friedens- und Entwicklungsprojekt, während die übrigen Entwicklungsländer in Lateinamerika und Asien die Vorzugsbehandlung Afrikas fürchteten oder als Fortsetzung des Kolonialismus mit andern Mitteln verurteilten Ähnlich wie der Schumanplan seit dem 9. Mai 1950 einen innereuropäischen Frieden stiftete, begründete die Eurafrikanische Gemeinschaft unter antikolonialistischen Vorzeichen erstmals in der Geschichte ihrer Beziehungen eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Europäern und Afrikanern und leistete mit diesem eurafrikanischen Frieden einen wesentlichen Beitrag zur Friedenssicherung und Konfliktregulierung in einer bipolaren Welt.

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