Psychiatrie und Strafjustiz. Entstehung, Praxis und Ausdifferenzierung der forensischen Psychiatrie in der deutschsprachigen Schweiz 1850-1950

Nom de l'auteur
Urs Philipp
Germann
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Albert
Tanner
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2003/2004
Abstract

Zwischen 1850 und 1950 erhielt die Präsenz von Psychiatrieärzten in der schweizerischen Strafrechtspflege eine neue Qualität. Zwar wurden StraftäterInnen vereinzelt bereits im 18. Jahrhundert auf ihren Geisteszustand begutachtet, doch vermochten sich gerichtspsychiatrische Begutachtungen in der Schweiz erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts definitiv zu etablieren. Um 1950 war der Einsatz psychiatrischer Sachverständiger in Strafprozessen schliesslich Routine geworden. Dementsprechend zugenommen hatte die Bedeutung von psychiatrisch-medizinischen Deutungsmustern und Versorgungs- und Verwahrungskonzepten in der Strafrechtspflege. Seit den 1890er Jahren schalteten sich die Schweizer Psychiater zudem erfolgreich in die Debatten um die anstehende Vereinheitlichung und Reform des schweizerischen Strafrechts ein. Namentlich bei der Formulierung der Gesetzesbestimmungen über die Zurechnungsfähigkeit und über sichernde Massnahmen an geistesgestörten DelinquentInnen waren die Strafrechtsreformer bereit, den Wünschen der Psychiater Rechnung zu tragen. Ziel der Dissertation ist es, diese in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts festzumachenden Trends zu einer arbeitsteiligen Bewältigung von Delinquenz nachzuzeichnen und die spezifischen Rahmenbedingungen, Entwicklungsdynamiken und Handlungsoptionen, die mit der strukturellen Koppelung der beiden Bezugssysteme Strafjustiz und Psychiatrie verbunden waren, zu rekonstruieren.


 

Zur Beantwortung dieser übergeordneten Fragestellung bewegt sich die Untersuchung auf zwei Ebenen. Auf der Ebene der Rechts- und Kriminalpolitik geht es zum einen darum, aufzuzeigen, inwiefern Strategien zur Medikalisierung von Delinquenz in der Schweiz zwischen 1850 und 1950 Handlungsoptionen für den Umgang mit kriminellem Verhalten darstellten. In einer längerfristigen Perspektive stellt sich zunächst die Frage nach dem Stellenwert von Medikalisierungstendenzen im modernen Strafrecht. Ausgehend von den allgemeinen Entwicklungstrends gilt es, die Rolle von Medikalisierungspostulaten, wie sie führende Psychiater formulierten, im Rahmen der schweizerischen Strafrechtsdebatte zu untersuchen. Auf der Ebene der Justizpraxis soll zum andern das Zusammenwirken von Justizbehörden und psychiatrischen Sachverständigen analysiert werden. Dazu wird exemplarisch die Begutachtungspraxis im Kanton Bern zwischen 1890 und 1920 untersucht. Schliesslich ist nach den Interdependenzen der beiden Untersuchungsebenen zu fragen. Diese Fragestellung wird anhand der Auswirkungen des schweizerischen Strafgesetzbuchs, das am 1. Januar 1942 in Kraft trat, auf die forensische Psychiatrie konkretisiert.


 

Die Untersuchung versteht sich als Beitrag zu einer sozialhistorisch erweiterten Psychiatriegeschichte, die Ansätze der historischen Kriminalitätsforschung aufnimmt. Was den analytischen Untersuchungsrahmen anbelangt, wird einerseits auf das Konzept der funktionalen Differenzierung Bezug genommen. Strafjustiz und Psychiatrie werden als unterschiedlich strukturierte Bezugssysteme modelliert, die über spezifische strukturelle Koppelungen miteinander kommunizieren. Der Rückgriff auf die Systemtheorie ermöglicht es, die Analyse von Diskursen, Handlungskonstellationen sowie politischen Lern- und Entscheidungsprozessen miteinander zu verbinden. Zur Erfassung der Entwicklungsdynamik des forensisch-psychiatrischen Praxisfelds bezieht sich die Untersuchung andererseits auf Medikalisierungs- und Professionalisierungsansätze, die anhand empirischer Befunde kritisch diskutiert werden. Indem die Untersuchung einen Aspekt der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) behandelt, versucht sie einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Rolle der Humanwissenschaften und insbesondere der Psychiatrie bei der Herausbildung jener Formen sozialer Kontrolle zu leisten, welche die Kriminalpolitik des 20. Jahrhunderts massgeblich prägten. Was die Ebene der Rechtspolitik betrifft, stützt sich die Untersuchung in erster Linie auf publizierte Quellen und die für die Strafrechtsreform relevanten Bestände des Schweizerischen Bundesarchivs. Die Begutachtungs- und Verwahrungspraxis im Kanton Bern wird dagegen primär anhand von Gerichts- und Patientenakten des Staatsarchivs des Kantons Bern und der beiden grossen psychiatrischen Kliniken des Kantons untersucht.


 

Anhand juristisch-medizinischer Leitdiskurse skizziert der erste Teil die Entstehung einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung durch Strafjustiz und Psychiatrie. Es wird aufgezeigt, wie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein forensisch-psychiatrisches Praxisfeld herausbildete, in dessen Zentrum die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit von StraftäterInnen stand. Trotz Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ärzten und Juristen entstand schliesslich eine stabile Abgrenzung der gegenseitigen Zuständigkeiten, die erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durch radikale Strafrechtsreformer in Frage gestellt wurde. Die Forderungen von Kriminologen und Psychiatern nach einer Umgestaltung des Strafrechts in ein „Schutzrecht“ der Gesellschaft vor „gemeingefährlichen Individuen“ bildeten denn auch den Hintergrund für die Vereinheitlichung und Reform des schweizerischen Strafrechts, die um 1890 einsetzten. Anhand des schweizerischen Reformprozesses lässt sich zeigen, wie sich im Umfeld der Strafrechtsdebatte nach und nach das Leitbild einer arbeitsteiligen Kriminalitätsbewältigung etablierte. So boten führende Juristen und Psychiater Hand zu einer pragmatischen Strafrechtsreform, die das bürgerliche Schuldstrafrecht lediglich punktuell modifizierte und die bisherige Aufgabenteilung zwischen Justizbehörden und psychiatrischen Experten weitgehend respektierte. Gleichzeitig erweiterte die regulative Kriminalpolitik, die mit der Verankerung eines zweispurigen Straf- und Massnahmenrechts zum Durchbruch kam, den Tätigkeitsbereich der Psychiatrie auf den Bereich des Massnahmenvollzugs. Die Psychiater wurden dadurch definitiv zu „Beratern in Sachen Bestrafung“ (Michel Foucault).


 

Im Zentrum des zweiten Teils steht die Aus weitung der forensisch-psychiatrischen Begutach tungspraxis im Kanton Bern, die zeitlich mit der Strafrechtsdebatte zusammenfiel. Zwischen 1885 und 1920 versechsfachte sich im Kanton Bern die Zahl der psychiatrisch begutachteten StraftäterInnen. Diese Zunahme ist primär darauf zurückzuführen, dass die Justizbehörden in zunehmendem Ausmass auf die Begutachtungskompetenzen der kantonalen Irrenanstalten zurückgriffen. Dahinter wird eine wachsende Sensibilität der Justizbeamten und Richter gegenüber psychischen Auffälligkeiten erkennbar, welche von der Psychiatrie als Zeichen einer angeborenen „Minderwertigkeit“ oder „latenter“ Krankheitsprozesse angesehen wurden. Gerade die Zunahme von „Grenzfällen“, bei denen die strafrechtliche Verantwortlichkeit schwankend blieb, verdeutlicht die Verankerung von vergleichsweise neuen psychiatrischen Deutungsmustern im Gerichtsalltag. Anhand von Fallbeispielen lässt sich aufzeigen, wie psychiatrische Deutungsmuster normabweichendes Verhalten in psychopathologische Sinnzusammenhänge stellten, die eine in sich stringente Interpretation von Delinquenz ermöglichten und Sinnbedürf nisse der Justizbehörden und der Öffentlichkeit gleichermassen befriedigten. Psychiatrische Deutungsmuster orientierten sich implizit an der Norm des selbstverantwortlichen Bürgers, der zu intentionalem Handeln und zu einer „sittlichen Selbstführung“ fähig war. Ausgehend von dieser Norm interpretierten psychiatrische Gutachten Verhaltensauffälligkeiten und Verstösse gegen soziale und geschlechtsspezifische Konventionen als psychopathologische „Abweichungen“. Die rechtliche Würdigung der psychiatrischen Gutachten blieb allerdings Sache der Justizbehörden. Aufgrund von Stichproben ist davon auszugehen, dass die Berner Justiz den Schlussfolgerungen der psychiatrischen Experten in etwa vier Fünfteln der Fälle anstandslos folgte. Besonders zum Ausdruck kommt diese hohe Konvergenz in der beträchtlichen Zahl von Fällen, die aufgrund psychiatrischer Gutachten eingestellt wurden, ohne dass es zu einer Gerichtsverhandlung kam. Wesentlich zur Bereitschaft der Justizbehörden, sich auf psychiatrische Deutungen einzulassen, trug der Umstand bei, dass die Berner Strafgesetzgebung erlaubte, unzurechnungsfähige StraftäterInnen mittels „Sicherungsmassregeln“ auf unbestimmte Zeit in Irrenanstalten zu verwahren und so die institutionellen Zugriffe auf Delinquenz auszudifferenzieren. Vor allem nach 1905 lässt sich eine sukzessive Ausweitung des psychiatrischen Massnahmenvollzugs feststellen, die in enger Zusammenarbeit zwischen den kantonalen Behörden und der Psychiatrie erfolgte.


 

Der dritte Teil beschäftigt sich schwerpunktmässig mit den forensisch-psychiatrischen Debatten der Zwischenkriegszeit und den Auswirkungen des schweizerischen Strafgesetzbuchs. Deutlich wird, dass nach 1910 vor allem die festgestellte Ausweitung des Massnahmenvollzugs zu einer Herausforderung für die Psychiatrie wurde. Die Psychiater wurden gleichsam Opfer ihres eigenen Erfolgs. Dies umso mehr, als sich die Disziplin nicht auf ein koordiniertes Vorgehen zur Schaffung spezieller Verwahrungsanstalten einigen konnte. Zu einem eigentlichen „Praxisschock“ (Detlev Peukert) kam es nach dem Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs 1942. Um der drohenden Überlastung der psychiatrischen Anstalten Herr zu werden, verlegte sich eine Mehrheit der Schweizer Psychiater auf die Strategie, geistesgestörte StraftäterInnen vermehrt in den regulären Strafvollzug abzuschieben. Diese Strategie einer teilweisen Demedikalisierung des Massnahmenvollzugs, die sich bereits in der Zwischenkriegszeit abgezeichnet hatte, führte schliesslich dazu, dass sich der Medikalisierungsoptimismus der Jahrhundertwende in sein Gegenteil verkehrte und sich auch in der Schweiz eine Tendenz zu einer „repressiven Kriminalpsychiatrie“ (Tilmann Moser) durchsetzte, die StraftäterInnen zwar mittels psychiatrischer Diagnosen stigmatisierte, ihnen jedoch keine therapeutischen Perspektiven bot. Gleichzeitig versandeten in der unmittelbaren Nachkriegszeit Bestrebungen zur Errichtung spezieller forensisch-psychiatrischer Institutionen.

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