Die Lizentiatsarbeit befasst sich mit der Rezeption der Hungerkrise von 1816/17 seitens der damals noch sehr jungen Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG). Einerseits erstatteten die Mitglieder Bericht zur Situation in ihren Wohnkantonen, andererseits erfolgte ein Austausch über Massnahmen und Lösungskonzepte zur Linderung der Krise. Dabei zeigt sich, dass nicht alle Regionen in gleichem Ausmass von der Krise betroffen waren, d.h. nicht alle Kantone wiesen gegenüber dem durch einen Vulkan ausgelösten Klimaeinbruch die gleiche Verletzlichkeit auf. Am grössten wurde die Not in jenen Kantonen beurteilt, die einen geringen Selbstversorgungsgrad aufwiesen und wegen erlassenen Lebensmittelsperren anderer Kantone und Länder unter fehlenden Importmöglichkeiten für Nahrungsmittel litten. Zudem verschärfte eine Krise in der Baumwollindustrie die Not in jenen Gebieten: Durch den Wegfall des Schutzes, den die Kontinentalsperre für die eidgenössische Baumwollverarbeitung bis 1815 bot, war diese der starken Konkurrenz Englands ausgeliefert. Produktpreise und somit auch Löhne der in der Branche beschäftigten Personen schrumpften zusammen, während die Lebensmittelpreise in nicht erlebte Höhe schossen. In den stark auf Aussenhandel (Import von Lebensmitteln, Export von Baumwollfabrikaten) angewiesenen Kantonen Appenzell Ausserrhoden und St. Gallen kam es zu einer regelrechten Hungersnot. Zahlreiche Menschen verloren ihr Leben: Gemäss Angaben der SGG starben in diesen beiden Kantonen etwa 6’000 Menschen an den Folgen des Hungers. Obwohl der Kanton Glarus vergleichbare Strukturen wie die oben genannten Kantone aufwies, vermochte er sich durch eine schweizweite Spendeaktion, an der die SGG massgebend beteiligt war, vor schlimmsten Schäden bewahren. Auch die restlichen untersuchten Kantone (Zürich, Aargau, Schaffhausen, Nidwalden und Waadt) erwiesen sich insgesamt als wesentlich krisenresistenter als die beiden Kantone der Ostschweiz.
Bei den in der SGG diskutierten Gegenmass nahmen lassen sich Ad hoc-Massnahmen und Lösungsstrategien, die längerfristig vor solchen Krisen schützen sollten, unterscheiden. Zu den Sofortmassnahmen gehörten Suppenausschank und Lebensmittelverteilung, Notstandarbeiten, private Unterstützung und das Ausweichen auf Ersatznahrung. Neben der stark angestiegenen Privatwohltätigkeit und der grossen Spendenfreudigkeit der Schweizer Bevölkerung, hatten vor allem die weit verbreiteten Suppenanstalten eine massgebliche Erleichterung der Situation gebracht. Die diskutierten Lösungskonzepte, die längerfristig wirken sollten, sind vor dem Hintergrund des verstärkten Bevölkerungswachstums und der in einigen Gebieten sehr verbreiteten Protoindustrialisierung zu sehen. Man befürchtete, dass die hohe Bevölkerungsdichte die eigene agrare Tragfähigkeit zu sehr strapazieren würde und die allgemeine Armut immer mehr ansteigen würde. Ein geeignetes Bekämpfungsmittel sah man in der Steigerung der Agrarfläche: So konnte man gleichzeitig mehr Personen in der Landwirtschaft beschäftigen und Erwerbsarbeitern, die auf das unsichere Einkommen aus der Textilwirtschaft angewiesen waren, zu einem sicheren Einkommen verhelfen. Zudem versprach man sich davon eine geringere Abhängigkeit vom Aussenhandel und einen höheren Selbstversorgungsgrad. Die überall gefühlte „Übervölkerung“ sollte auch mit Ausund Binnenwanderung (Umsiedlung) behoben werden. Obwohl man sich noch nicht ganz sicher war, ob man die Auswanderung fördern sollte oder nicht, zeichnete sich 181 die erste Auswanderungswelle des 19. Jahrhunderts ab. Projekte einer Umsiedlung scheiterten von vornherein: Alle Kantone wollten sich lieber eines Teils ihrer Bevölkerung entledigen, als Einwohner aus anderen Kantonen aufzunehmen.
Die bei der Krise erst sechsjährige SGG wurde angesichts der grossen Not stark herausgefordert und war sich ihrer geringen Handlungsfähigkeit bewusst. Ihre Statuten erlaubten keine Direkthilfe, die SGG fungierte also in erster Linie als eine Art Austauschforum. Dabei zeigte sich unter anderem, dass die traditionelle Deutung der Armut (Selbstverschuldungsprinzip) während der Krise nicht mehr vollumfänglich greifen mochte: Man stellte eine stark anwachsende Bevölkerungsschicht fest, die arbeitete ohne dabei ihren Lebensbedarf decken zu können.
Neben wirtschaftlichen und demographischen Folgen der Hungerkrise waren in der SGG auch ihre Auswirkung auf Moralität und Religiosität der Bevölkerung ein wichtiges Thema. Mit Besorgnis erkannte man, dass vor allem der ärmste Teil der Bevölkerung in den Not leidenden Gebieten zur Bewältigung der Krise vermehrt zu Kriminalität und Bettlerei neigte und sich gegenüber sektiererischem Gedankengut sehr offen zeigte
Eine „Epoche der fürchterlichsten Theurung und des drückenden Mangels“. Die Hungerkrise 1816/17 aus Sicht der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG)
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2008/2009
Abstract