Mutterschaft im Leben und Werk von Emanuele Meyer-Schweizer

Nom de l'auteur
Selina
Krause
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2001/2002
Abstract

Emanuele Meyer-Schweizer war Ärztin und betätigte sich gleichzeitig als Schriftstellerin. Sie verfasste Bücher mit so genannt „volkserzieherischem“ Anspruch, deren Inhalte sie auch durch unzählige Vorträge, die sie zwischen 1910 und 1930 in Deutschland, der Schweiz und Österreich hielt, verbreitete. Berühmt wurde sie mit ihrer ersten Publikation von 1912, einem Sexualaufklärungsund Erziehungsbuch für Mädchen und Frauen, welches sie im Diskussionszusammenhang der Sittlichkeitsbewegung, des deutschen katholisch-bürgerlichen Milieus und der Frauenbewegung verfasste.

 

Von Seiten der Geschichtswissenschaft ist Emanuele Meyer-Schweizer bis anhin noch keine Beachtung entgegen gebracht worden. Ihr äusserst umfangreicher Nachlass, der seit Mitte der 1990er Jahre im Archiv der Gosteli Stiftung in Worblaufen bei Bern zugänglich ist, hat nun eine erste Annäherung an ihr Leben und ihr Werk möglich gemacht. Die Lizentiatsarbeit geht von zwei Fragestellungen aus. Zum einen hat sie einen Überblick über Emanuele Meyer-Schweizers Leben zum Ziel. Die zweite Frage richtet sich nach ihrem Werk. Mit ihren Texten über Mutterschaft wird ein zentraler Teil ihres Werkes vorgestellt. Emanuele Meyer-Schweizer hat über Mutterschaft unzählige Kurse und Vorträge gehalten und in zwei ihrer Bücher (1912 und 1921) je ein Kapitel dazu verfasst. Diese beiden Texte werden in der Arbeit vorgestellt und mit einer hermeneutischen Lesart analysiert.

 

Das dazu gewählte methodische Vorgehen orientiert sich an der Deutungsmusteranalyse. Diese fokussiert den Zusammenhang von individueller und gesellschaftlicher Deutung. Demzufolge werden als Vorbereitung der Textanalyse einerseits die biographischen Erfahrungen der Autorin als Mutter rekonstruiert – sie selber war allein erziehende und berufstätige Mutter, was im bürgerlichen Milieu eine ungewöhnliche Lebensform darstellte – andererseits die zeitgenössischen Diskurse, die Mutterschaft thematisierten, beschrieben. Vor diesem Hintergrund werden sowohl die inhaltliche Ausgestaltung der Texte wie auch deren Funktion für die Autorin erklärbar.

 

Mit dem ersten Teil der Arbeit, der historischen Annäherung an Emanuele Meyer-Schweizers Leben, wird eine in vielfacher Hinsicht aussergewöhnliche Person sichtbar. Emanuele Meyer-Schweizer war in vielem eine Pionierin. Sie war europaweit eine der ersten Frauen, die Medizin studierten. Sie gehörte zur ersten Generation von Frauen, die in Deutschland eine Arztpraxis eröffneten, und sie hatte eine der ersten als Erwerbsarbeit konzipierten Stellen der sich etablierenden Sozialarbeit inne. Sie war als Schriftstellerin eine der wenigen Frauen, die im Diskussionszusammenhang der Sittlichkeitsbewegung publizierten. Gerade die Besonderheiten von Emanuele Meyer-Schweizers Leben können als ein typisches Zeitzeugnis verstanden werden. Die „turbulente“ Epoche der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die von sozialen Umbrüchen geprägt war, manifestiert sich in Emanuele Meyer-Schweizers Biographie. An ihrer Person werden die konkreten Lebensverhältnisse eines Individuums, welches die gesellschaftlichen Neuerungen am eigenen Leib erfuhr und mitprägte, sichtbar. Emanuele Meyer-Schweizer repräsentiert zudem typische Denkweisen ihrer Zeit. Sie verkörperte in der ersten Phase ihres schriftstellerischen Schaffens, in den 1910er Jahren, insbesondere das katholisch-bürgerliche Milieu, dessen Befindlichkeit in ihren ersten beiden Publikationen von 1912 und 1913 sichtbar wird. Ab den 1920er Jahren, als Emanuele Meyer-Schweizer Erfolg und gesellschaftliches Ansehen einbüsste, wurden ihre Positionen stärker individualistisch, in dem Sinn, dass sie nicht-hegemoniale Meinungen zu formulieren begann. Sie verurteilte zunehmend das bürgerliche Milieu und wurde feministisch in dem Sinn, dass sie die Stellung und mindere Wertschätzung der Frau in der Gesellschaft und besonders in der Kirche anklagte. Diese Etappe ihres Lebens ist für die Geschichtswissenschaft insbesondere deshalb interessant, weil anhand dieser ein Blick in die Befindlichkeit einer gesellschaftlichen Aussenseiterin möglich ist, in die Erfahrung einer Frau, deren Lebensform zu den gesellschaftlichen Weiblichkeitsidealen und den damit verbundenen sozialen Plazierungen von Frauen quer stand.

 

Die genannten Etappen ihres Lebens spiegeln sich auch in ihren Texten über Mutterschaft. Als Repräsentantin des katholisch-bürgerlichen Milieus vertrat sie in einer ersten Phase die darin hegemonialen Weiblichkeits- und Mutterideale, schrieb demnach die Frau auf ihre Aufgabe als Mutter und Gattin fest und erhöhte sie zur Retterin der als dekadent empfundenen Kultur. Später, in eine soziale Aussenseiterrolle abgedrängt, vertrat sie ein individualistischeres Mutter- und Frauenbild. Sie klagte das hegemoniale Mutterideal der Vereinnahmung der Individualität der Frau an und verteidigte deren Selbstbestimmungsrecht. Die Analyse vor dem biographischen und diskursiven Hintergrund macht deutlich, dass die Veränderungen in der inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Texte auf Diskrepanzen zwischen Erfahrung und Diskurs zurückgeführt werden können. Die Mutter- und Erziehungsideale der bürgerlichen Gesellschaft erlebte Emanuele Meyer-Schweizer als allein stehende, allein erziehende und erwerbstätige Mutter immer mehr oder weniger als widersprüchlich zur eigenen Erfahrung. Eine hermeneutische Lesart der Texte macht sichtbar, mit welchen Strategien sich Emanuele Meyer-Schweizer in diesem Spannungsverhältnis kognitiv und emotional orientierte und bewegte. In ihren Texten tritt Emanuele Meyer-Schweizer in Kommunikation mit den gesellschaftlichen und von ihr selber verinnerlichten Normen über die „gute Mutter“ und verarbeitet die Diskrepanzen durch ein Arrangieren von sich widersprechenden Diskursen. Die Texte zeigen den Prozess der Bewältigung ihrer ambivalenten biographischen Erfahrung. Mit der Analyse der Texte wird damit exemplarisch gezeigt, wie Weiblichkeit durch Zuschreibung und Aneignung von Deutungen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort hergestellt wurde.

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