Im ersten Teil des Textes stehen Definitionen und Begriffsabgrenzungen sowie ein kurzer Abriss über die Forschungsgeschichte zur MafiaThematik im Vordergrund. Dabei werden diverse überkommene Vorstellungen und Klischees korrigiert und demontiert. So hält etwa die Vorstellung einer ursprünglich auf ihre Art „ehrenwerten“ Mafia, die erst in einem modernen Kontext zu einem nunmehr kriminellen Phänomen korrumpiert wird, einer historischen Analyse nicht stand. Der Mythos der „guten alten Mafia“ beruht auf der unkritischen Übernahme tendenziöser Betrachtungsweisen. Zum einen handelt es sich dabei um den Diskurs von in Mafiainternen Machtkämpfen unterlegenen Justizkollaborateuren, die sich selbst als Angehörige einer alten, ehrenwerten Mafia bezeichnen und die Sieger als Vertreter einer „bösen neuen“, nunmehr „degenerierten“ Mafia disqualifizieren. Zum anderen fusst die Vorstellung der Mafia als von der Moderne „verdorbener“ Archaismus auf dem Standbein des Sizilianismus’. Der ausgeprägte regionale Patriotismus namentlich der sizilianischen Eliten und Intelligenz adaptierte auf diese Weise die von aussen erfolgte Zuweisung der Mafia zum insularen Volkscharakter. Die ethnisch bestimmte Zuweisung wirkte sich auf mehreren Ebenen verhängnisvoll aus:
a) Die zentralstaatlichen Autoritäten erkannten den geheimbündisch organisierten Charakter der Mafia nicht oder unterschätzten zumindest dessen Ausmass. Erst die Aussagen Buscettas, die Ermittlungsarbeit von Falcone und Borsellino sowie die in den 1980er und 1990er Jahren ausufernde MafiaGewalt verankerten im öffentlichen Bewusstsein die Existenz einer organisatorischen Zentrale der sizilianischen Mafia – Cosa Nostra.b)
b) Die Verschmelzung des mafiosen Klientelismus mit den „normalen“, auf der ganzen Halbinsel durchaus gängigen, Klientelismen entwickelte sich für die Mafia zu einem äusserst wirksamen Dispositiv der Tarnung, das sich auch auf die Forschung nachhaltig auswirkte. Das praktisch kompetente juristische und polizeiliche Fachpersonal hatte diesbezüglich lange Zeit einen schweren Stand gegen die im wissenschaftlichen Diskurs vorherrschende Auffassung der Mafia als diffuses soziokulturelles Phänomen ohne eigene Organisation. Die Vorstellung, dass Korruption und Klientelismus in Sizilien besonders ausgeprägt und „erfolgreich“ funktionierten, weil besser organisiert als sonst im Land, lag quer zu den stereotypen Betrachtungen von Sizilien und dem Mezzogiorno im Allgemeinen.
c) Selbstverständnis und Selbstdarstellung der Mafiosi profitierten nachhaltig von der Idee einer tief in sizilianischen Wesen verwurzelten mafiosen Mentalität. Sie tarnten damit nicht nur erfolgreich die organisatorische Dimension ihrer Körperschaften, und verhüllten deren zweckmässigökonomische und kriminelle Ausrichtung.
Im Gegensatz zum organisierten Verbrechen beinhaltet die Mafia mehr als ein Mittel der Kapitalakkumulation und Gewinnmaximierung. Die Mafiosi vertreten eine politische Körperschaft mit staatsähnlichem Charakter, die eigene Normen auch gewaltsam durchzusetzen kann, ein Territorium kontrolliert und in Form von Schutzgeldern und erzwungenen Geschäftsbeteiligungen gewissermassen „Steuern“ erhebt.
Die Existenz mafioser Organisationen ist mit dem Prinzip staatlicher, vor allem rechtsstaatlicher Autorität grundsätzlich nicht vereinbar. Die mafiose Ideologie lehnt die Idee eines für alle verbindlichen Rechts ebenso ab wie die Vorstellung, die Menschen seien gleich und gewisse Rechte seien allen zu garantieren. Ideologisch verhält sich die Mafia tatsächlich wie ein Gegenstaat, praktisch jedoch wie ein parasitäres Zwischenglied zwischen Staat und Gesellschaft.
Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit der Entstehung der Mafia und der „Entdeckung“ der MafiaProblematik durch Staat und Öffentlichkeit 9im Zeitraum 1860 bis 1905. Er beinhaltete darüber hinaus eine eigentliche „Entstehungsgeschichte“ der sizilianischen Mafia, die sie sich allmählich im Übergang vom bourbonischen Reich zum italienischen Zentralstaat herausbildete. Die nationale Einigung gab dazu auf drei Ebenen entscheidende Impulse:
a) Auf einer soziokulturellen Ebene aktualisierte die 1860er Revolution eine bereits bestehende Tradition von Rechtsunsicherheit und privater Gewaltausübung.
b) Die Bemühungen des Zentralstaates um Entwicklungshilfe für die rückständige Insel eröffneten mafiosen Seilschaften neue Geschäfts und Einflussmöglichkeiten durch Kontrolle über öffentliche Mittel.
c) Die nationale Einigung aktualisierte auch die problematischen Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie und ermöglichte es so der Mafia, als relativ eigenständige politische Kraft in Erscheinung zu treten.
Die Bekämpfung der Mafia wurde nach der Machtübernahme durch die „Sinistra storica“ 1876, von politischen Aussenseitern vorangetrieben und damit zu einem Bestandteil vor allem linksoppositioneller Politik. Im Interesse der Stabilität bezog der Zentralstaat Stellung gegen jene progressiven und sozialrevolutionären Kräfte, die sich gegen die Mafia engagierten.
Im dritten Teil stellt sich die Frage, warum den Initiativen des Staates gegen die Mafia stets so wenig Erfolg beschieden war. Denn offenbar reagierte der Staat zwar auf Perioden besonders virulenter mafioser Gewalt mit durchaus wirkungsvoller Repression, lockerte aber stets den Druck, sobald er damit einige Erfolge verzeichnet hatte, weil man die MafiaProblematik als Problem der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung missverstand, aber auch weil innerhalb des politischen Tagesgeschäfts sich die Unterstützung durch die Mafia zu einer Notwendigkeit entwickelt hatte.
Die erste Parlamentarische Untersuchungskommission markiert trotz ihrer politischpraktischen Wirkungslosigkeit eine wichtige Etappe im Prozess einer sich zunehmend vertiefenden „diplomatischen Krise“ zwischen dem politischen Establishment und der immer mächtigeren und entsprechend selbstherrlichen Cosa Nostra. Erst die Umwälzungen der frühen 1990er Jahre führten jedoch den endgültigen Bruch herbei.
In den Kommissionsunterlagen interpretieren die Vertreter der verschiedenen Parteien die MafiaProblematik gemäss den politischen Erfordernissen: Als degeneriertes Überbleibsel einer – ursprünglich nicht nur kriminellen – archaischen Subkultur die Vertreter der DC, als Handlanger eines grossbürgerlichen Klassenfeindes der PCI und als Indikator eines degenerierten Parlamentarismus die Repräsentanten von MSIDN. Wobei allerdings die extreme Rechte die Mafia griffiger und realistischer als kriminelle Organisation definierte als die Linke.
Die modernisierte Mafia der 1960er und 1970er Jahre konnte nicht länger als der bewaffnete Arm eines bourgeoisen Unterdrückungssystems identifiziert werden, das bis anhin die Interessen einiger weniger Landbesitzer gegen die Masse landloser Bauern vertreten hatte. Mit der Politik des „Historischen Ausgleichs“ zwischen Kommunisten und Christdemokraten verlor die Bekämpfung der Mafia vollends ihre traditionelle linke Trägerschaft. Eine wirksame konservativkatholische Antimafia-Politik wurde durch die kompromittierte DC sowie eine zögerliche Kurie verunmöglicht. Die Antimafia wurde damit zur Sache einer weit gestreuten Minderheit, Teil eines überparteilichen staatsbürgerlichen Ethos, der das Grundübel der mittlerweile italienischen MafiaProblematik offenbart: Waren es mehrheitlich sizilianische Besonderheiten, welche die Entstehung der Mafia ermöglichten, beruht ihre enorme Expansion und ihr Machtzuwachs auf den Defiziten eines Nationalstaates, mit dem sich nicht einmal dessen politische Vertreter zu identifizieren wissen.
Mafia und Antimafia im politischen Diskurs. Wie der italienische Staat sich 1963 bis 1976 erstmals auf organische Weise – mittels einer Parlamen- tarischen Untersuchungskommission – mit der sizilianischen Mafia befasste und warum er so lange dazu gebraucht hatte
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2006/2007
Abstract