Eingliederung vor Rente? Das Eingliederungsprinzip in der schweizerischen Invalidenversicherung zwischen 1955 und 1992

Nom de l'auteur
Ann-Karin
Wicki
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2018/2019
Abstract

Die Dissertation untersucht die Frage, wie das Prinzip „Eingliederung vor Rente“ als zentrales Element des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG) umgesetzt wurde und wie sich dieser Grundsatz bis 1992 entwickelte. Dabei geht die Dissertation davon aus, dass sich das Behinderungsverständnis der Akteure durch gesellschaftliche, wirtschaftliche und medizinische Entwicklungen veränderte. Da der Gesetzgeber den Eingliederungsgrundsatz nicht explizit im Gesetz festschrieb, fragt die Dissertation nach den gesetzlichen Rahmenbedingungen: Invaliditätsbegriff; Invaliditätsgrad, der Anspruch auf eine Rente gab; Struktur des Rentensystems; Eingliederungsmassnahmen sowie Organisation der Invalidenversicherung (IV). Schliesslich fragt die Dissertation nach der Situation der nichterwerbstätigenFrauen in der auf Erwerbstätige ausgerich teten IV.

 

Die Dissertation stützt sich auf die Quellen des Bundearchivs. Sie analysiert die Fragestellungen anhand der Rolle der Invalidenorganisationen und -verbände, der Bundesbehörden (insb. des BSV und des Bundesrates), der Parteien sowie des Parlaments im vorparlamentarischen und parlamentarischen Gesetzgebungsprozess.

 

Behinderungs- und Eingliederungsverständnis

Das Behinderungs- und Eingliederungsverständnis der Akteure wies im Untersuchungszeitraum sowohl Kontinuitäten als auch Diskontinuitäten auf. Erziehung und Eingliederung in die Erwerbstätigkeit standen in den 1950er Jahren imZentrumdesVerständnisses.Behinderunggalt als weitgehend durch körperliche oder geistige Andersheiten definiert. Behinderte sollten durch geeignete Eingliederungsmassnahmen ihre Andersheit überwinden und sich ihrer Umwelt anpassen, um ein gesellschaftlich anerkanntes Leben führen zu können und individuelle Bestätigung zu erfahren. Ab den 1970er Jahren wird Behinderung auch als sozial, d.h. durch die Umwelt bedingt wahrgenommen. Ausdruck findet dieser Wandel u.a. in den Forderungen nach Gleichbehandlung und Mitspracherechten für Behinderte.

 

Neben der erwähnten sozialen und individuellen Funktion hatte Eingliederung auch eine wirtschaftliche Funktion: Sie sollte Behinderte dem Arbeitsmarkt zuführen, sie finanziell unabhängig machen und eine finanziell günstige Versicherung garantieren.

 

Verschiedene Faktoren, wie fehlende Kontrolle über die praktische Eingliederung in die Arbeit oder die hohe Ersatzquote, führten bis 1992 zur Schwächung des Eingliederungsprinzips.

 

Erwerbsarbeit war das ausschliessliche Ziel der Eingliederungspolitik der 1950er Jahre. Ab den 1960er Jahren wurden vermehrt Forderungen nach gesellschaftlicher und kultureller Integration laut, die im IVG nur punktuell aufgenommen wurden. Erwerbsarbeit blieb jedoch weiterhin das zentrale Ziel der Eingliederungsmassnahmen der IV.

 

Gewisse Vorstellungen von Behinderung überdauerten den Untersuchungszeitraum: Behinderung wurde als Schicksalsschlag wahrgenommen und die betroffenen Menschen wurden mit negativen Charaktereigenschaften in Verbindung gebracht, was sich anhand des Verdachts, Behinderte würden Versicherungsmissbrauch begehen, illustrieren lässt.

 

Eingliederung als Resultat von Invaliditätsbegriff, Rentensystem und Eingliederungsmassnahmen

Invalidität beinhaltete gemäss Gesetz körperliche und geistige Leiden, die durch eine Krankheit, einen Unfall oder ein Geburtsgebrechen während längerer Zeit zu einer Erwerbsunfähigkeit mit entsprechendem Lohnausfall führten. Der Gesetzgeber verband medizinische mit sozialen Elementen und ordnete Menschen mit unterschiedlichsten Leiden der Kategorie „invalid“ zu. Der Invaliditätsbegriff wurde erst 1988 durch das BSV und 2004 durch den Gesetzgeber um psychische Leiden erweitert. Um die IV vor den medizinischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen, die die Zahl der Invaliden ab den 1970er Jahren steigen liessen, zu schützen, verstärkten Verwaltung, Bundesrat und Gesetzgeber die medizinischen Abklärungen zur Feststellung des Leistungsanspruchs.

 

Das Teilrentensystem mit einer Härtefallrente war ein Kompromiss, der von linker Seite initiiert wurde und die Unterstützung von bürgerlichen Politikern erhielt. Der für eine Rente ausschlaggebende Invaliditätsgrad wurde als relevant für den Eingliederungswillen der Versicherten erachtet. Der Glaube, dass mit Teilrenten der Eingliederungswille gestärkt werden könne, bildete ein Hauptargument für die Verfeinerung des Rentensystems 1968 und 1988. Ausserdem, so die Meinung im Parlament in den 1980er Jahren, stärke eine Teilrente den Willen der Arbeitgeber, Behinderte einzustellen, weil die Rente vom Lohn abgezogen werden könne – die Rente wurde zum Arbeitsmarktinstrument.

 

Eingliederungsmassnahmen sollten möglichst früh, d.h. idealerweise bei drohender Invalidität, beginnen, um eine Erwerbsunfähigkeit zu verhindern oder zumindest zu mindern. Verweigerte eine versicherte Person Eingliederungsmassnahmen, konnte sie mit Rentenentzug bestraft werden. Den Entscheid, welche Massnahmen für die versicherte Person geeignet waren, trafen gesunde Eingliederungsexperten. Das geforderte Mitspracherecht der Behinderten in den IV- Kommissionen wurde bis 1992 abgelehnt. Die Eingliederungsmassnahmen waren vor allem auf körperliche Leiden ausgerichtet und wurden im Untersuchungszeitraum kaum an die sich verändernden Rahmenbedingungen angepasst. Eingliederung als „Opfer“ der fragmentierten Organisation Die Organisation der IV war ein Nebeneinander von bestehenden und neuen Organen. Sie war geprägt von einer internen (verschiedene IV-Organe) sowie einer externen Fragmentierung (Einbettung in die Versicherungs- und Institutionenlandschaft). Private Institutionen waren für die konkrete Arbeitsaufnahme zuständig, sodass die IV die Kontrolle über den Eingliederungsprozess im entscheidenden Augenblick verlor. Der Untersuchungszeitraum war von Klagen der Invalidenorganisationen und des Parlaments über lange Verfahrensdauern und unklare Zuständigkeiten geprägt. AHV/IV-Kommission, BSV und Bundesrat versuchten ab 1960, diese Klagen durch einzelne Massnahmen zu entschärfen, ohne dabei die strategische Ausrichtung der IV zu thematisieren. Im Mittelpunkt dieser Massnahmen stand eine Stärkung der Ärzte der IV-Kommissionen und der medizinischen Abklärungen. Eine grundsätzliche Reorganisation, die Einführung der kantonalen IV-Stellen, kam erst 1992 unter Führung des EJPD und des BJ und gegen den Widerstand von AHV/ IV-Kommission und BSV zustande. Ziel der Reorganisation war es, die IV transparent, effizient, kompetent und bürgernah zu gestalten. Eingliederung sichert den „Dienst an der Familie“

 

Die Eingliederung war auf Erwerbsarbeit und damit auf berufstätige männliche Versicherte zugeschnitten, sodass nichterwerbstätige Frauen durch das Volksobligatorium zwar versichert, die Leistungen der IV aber nicht auf ihre Situation ausgerichtet waren. Die IV sollte dem Schutz des Familienernährers dienen, die Leistungen für die invalide Ehefrau das Funktionieren der Familie sicherstellen. Nichterwerbstätige Ehefrauen sollten in den bisherigen Tätigkeitsbereich, sprich den Haushalt, integriert werden. Ob die vorgesehenen Eingliederungsmassnahmen diesen Zweck erfüllen konnten, wurde von den Akteuren nicht diskutiert. Eine Analyse der Situation der Frauen in der IV kann gemäss den untersuchten Quellen erstmals 1991 festgestellt werden: Hauptergebnis dieser Analyse ist die Feststellung, dass Frauen eine doppelte Diskriminierung erfuhren – aufgrund des Geschlechts und der Behinderung.

Publiziert: Ann-Karin Wicki, Zurück ins aktive Leben. Von „Eingliederung vor Rente“ zu „Eingliederung dank Rente“ – Die Politik und die Schweizerische Invalidenversicherung zwischen 1955 und 1992, in: Schriftenreihe der Schweizerischen Gesellschaft für Gesundheitspolitik (SGGP), 134 (2018).

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