Das Transitland Schweiz drohte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts umfahren zu werden. Ein internationaler Druck auf die Schweiz, einen zweiten Alpendurchstich zu bauen, war deshalb latent vorhanden. Östlich und westlich des Gotthards wetteiferten zwei Regionen um den Bau einer weiteren Alpentransversale. Die Ostschweiz sah die Lösung in einer Ostalpenbahn, der Kanton Bern in einer eigenen Alpentransversale durch den Lötschberg, der zusammen mit dem Simplon eine zweite schweizerische Transitachse bilden sollte. Während rivalisierende Gruppen in der Ostschweiz die Durchsetzung eines Projekts verunmöglichten, demonstrierten die Berner grössere Einigkeit. Zwischen 1902 und 1913 setzten sie ihre lange gehegten, ehrgeizigen Pläne eines zweiten Alpendurchstichs um. Dieser führte von Spiez durch den Lötschberg nach Brig und wies – im Vergleich etwa zur SBB – ein besonderes Merkmal auf: Die Berner Alpenbahn Bern-Lötschberg-Simplon (BLS) verzichtete nämlich auf die damals übliche Kohle als Energielieferantin für die Züge und entschied sich für ein noch weitgehend unerprobtes, aber von Anfang an eingesetztes elektrisches Traktionssystem.
Denn nicht nur in das Eisenbahnnetz investierte der Kanton Bern um die Jahrhundertwende. Parallel zur Planung der Lötschbergstrecke erwarb er zwischen 1903 und 1905 die Aktienmehrheit an den damals noch privatwirtschaftlich organisierten Elektrizitätswerken in Hagneck und Spiez (Vereinigte Kanderund Hagneckwerke AG (VKHW), ab 1909 Bernische Kraftwerke AG (BKW)) und machte sich damit zu einem wichtigen Akteur auf dem schweizerischen Elektrizitätsmarkt.
Damit schuf der Kanton Bern eine wichtige Voraussetzung für eine elektrische BLS, die bei ihrer Betriebsaufnahme 1913 als Pionierleistung galt. Sie befuhr von Anfang an als Normalspurbahn elektrisch so steile Rampen (27‰), wie sie bis dahin nicht mit normalspurigen und elektrisch betriebenen Eisenbahnen bewältigt worden waren.
Da diese Pioniertat in der Literatur zwar erwähnt, nicht aber begründet wird, untersucht diese Lizentiatsarbeit die Rolle von den sechs Faktoren Politik, Persönlichkeiten, Technik, Wirtschaft, Militär und betroffene Menschen beim Zustandekommen der elektrischen BLS. Ergänzend interessieren die Erwartungen der Planungsund Bauphase, und ob der tatsächliche Betrieb diese Erwartungen erfüllte.
Die Beiträge am Zustandekommen der BLS der verschiedenen Faktoren unterschieden sich beträchtlich. Die tragenden Pfeiler für dieses grosse, langfristig angelegte Infrastrukturprojekt bestanden aus den starken politischen und wirtschaftlichen Interessen und Hoffnungen im Kanton Bern um die Jahrhundertwende sowie einer starken schweizerischen Maschinenindustrie, wobei der Erfolg nur dank der Verbindung dieser drei Faktoren durch einzelne Persönlichkeiten eintrat. Wesentlich trugen zudem die in kantonalen Abstimmungen gezeigte Unterstützung und der Goodwill der von der Bahn betroffenen Bevölkerung, sowie die den eigentlichen Bau durchführenden mehrheitlich italienischen Arbeitskräfte bei. Einzig das Militär wirkte nicht treibend, sondern stellte mit der Konkretisierung des Lötschbergprojekts zunehmend Forderungen, die den Bau der BLS jedoch nicht wesentlich beeinflussten.
Mit dem Bau der Lötschbergbstrecke erreichte der Kanton Bern zwei Ziele: Einerseits verwirklichte er sich einen lange gehegten Wunsch nach einem eigenen Alpendurchstich, anderseits vervollständigte er mit seinem Anschluss an den Simplon eine zweite schweizerische Alpentransversale, welche die drohende Umfahrung der Schweiz abwandte und sie als internationales Transitland stärkte. Da auch in der (Nord-)Ostschweiz Pläne für eine zweite Alpentransversale bestanden und sich der Bund auf die Gründung der SBB konzentrierte, galt es für den Kanton Bern, schnell, selbständig und kostengünstig zu handeln. Eine politische heikle Situation, in der der staatstragende Freisinn die Legitimation seines Prestigeprojekts Lötschberg nur mit dem dank kantonseigener Elektrizitätswirtschaft wirtschaftlich günstigen elektrischen Betrieb retten konnte, und der nur dank persönlichem Kontakt zur schweizerischen Maschinenindustrie geglückte Bau weltweit stärkster Lokomotiven ermöglichten die Betriebsaufnahme der BLS im Sommer 1913 als technische Pioniertat. Sie war Ausdruck des Optimismus der Hochkonjunkturphase im letzten Jahrzehnt des teils euphorischen ‚langen‘ 19. Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg.
Resultate dieser Forschungen sind bereits als Aufsatz präsentiert worden: Anna Amacher, „Dynamische und risikofreudige Berner. BLS und BKW auf dem Weg zur Pioniertat, 1902–1914“, in: Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde 69. Jahrgang (2007), S. 77–150.
Dynamische Berner. Faktoren für die frühe Elektrifizierung der Berner Alpenbahngesellschaft Bern-Lötschberg-Simplon (BLS) unter besonderer Berücksichtigung der Bernischen Kraftwerke AG (BKW) 1902-1914.
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2006/2007
Abstract