Diktatur und Revolution: Der Bauernkrieg in der Geschichtswissenschaft des „Dritten Reiches“ und der DDR

Nom de l'auteur
Laurenz
Müller
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Peter
Blickle
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2002/2003
Abstract

Das „Dritte Reich“ und die DDR bauten ihre Herrschaft auf grundsätzlich verschiedenen Ideologien auf. Dennoch verfügten die beiden Diktaturen in einigen Punkten über Gemeinsamkeiten. Sie erhoben einen totalen Anspruch auf die Gesellschaft und schufen einen Apparat aus Geheimpolizei, Zensurstellen und einer politischen Justiz, der die Umformung der Gesellschaft nach ideologischen Gesichtspunkten kontrollieren sollte. Dies hatte zwangsläufig auch Auswirkun- gen auf das akademische Feld und damit auch auf die Geschichtswissenschaft. Beide Regime verlangten von den Historikerinnen und Historikern, sich vom bürgerlichen Ideal einer möglichst „objektiven“ und apolitischen Interpretation der Geschichte zu verabschieden und die jeweilige Ideologie zur Grundlage ihrer historischen Analyse zu machen. Der wissenschaftlichen Pluralität in einer liberalen Gesellschaft wurde die politische Parteilichkeit gegenübergestellt. Hierbei kontrastiert das heterogene Konglomerat der rassistischen, nationalistischen und anti-liberalen Geschichtsbilder des Nationalsozialismus mit dem konsistenten Theoriegebäude des Historischen Materialismus. Dennoch gleichen sich nationalsozialistisch und marxistisch-leninistisch orientierte Darstellungen teilweise viel stärker, als dies auf den ersten Blick zu erwarten wäre. Diese Beobachtung erklärt sich vor allem aus dem beiden Systemen eigenen revolutionären Selbstverständnis: Sowohl das nationalsozialistische als auch das marxistisch-leninistische Deutschland feierten sich als eine neuartige Ordnung, mit der die bürgerliche Gesellschaft definitiv überwunden worden sei. Getragen worden sei diese Revolution – daran wollten die beiden Diktaturen keinen Zweifel lassen – vom Volk.


 

Das revolutionäre Pathos und der Rekurs auf den angeblichen Volkswillen waren nicht nur von propagandistischer Bedeutung, sondern bildeten in beiden Diktaturen auch einen Grundpfeiler für die historische Interpretation. Dies gilt insbesondere für die Rezeption der Reformation und den daran anschliessenden Bauernkrieg von 1525. Die Reformation nahm in der deutschen Geschichtsschreibung seit jeher eine zentrale Position ein, der Bauernkrieg erwies sich in den beiden Diktaturen als vielseitig interpretierbares Legitimationsfeld. Dass dieser Aufstand, in dem der gemeine Mann mit einem ganzen Bündel alternativer und utopischer Gesellschaftsvorstellungen gegen die Fürstenmacht angetreten war, in einer Niederlage endete, machte ihn für die jungen politischen Systeme zu einer idealen Projektionsfläche der eigenen Visionen. Die revolutionären Umbrüche des frühen 16. Jahrhunderts konnten so als eine Volksbewegung dargestellt werden, die bereits jene Ordnung angestrebt hatte, die dank dem Nationalsozialismus respektive dank dem Marxismus-Leninismus nun erreicht worden sei. Die Konturen der jeweiligen Interpretationen treten insbesondere dann deutlich hervor, wenn sie mit der historiographischen Tradition kontrastiert werden.


 

Leopold Ranke, der Übervater der deutschen Geschichtswissenschaft, schuf Mitte des 19. Jahrhunderts eine Interpretation, die das Bild der Lutherreformation für Jahrzehnte prägte: Dem Zeitgeist entsprechend bezeichnete er die Reformation in seiner „Deutschen Geschichte“ als die zentrale „Idee“ der deutschen Nation und damit eine frühe Bestrebung zur nationalen Einigung. Der Bauernkrieg war laut Ranke zwar ein Teil der reformatorischen Bewegung, aber ein historiographisch letztlich nicht zu erklärendes „Naturereignis“. Damit wird die historistische Perspektive Rankes deutlich – dem deutschen Geist zum Durchbruch zu verhelfen und die Nation zu einem geeinten Deutschland zu führen, erachtete er als eine Aufgabe der „Grossen Männer“, nicht des Volkes. Von einem grundsätzlich anderen Geschichtsverständnis geht eine zweite Studie zur Reformationszeit aus, die fast zeitgleich entstanden ist: Friedrich Engels publizierte 1850 seine Arbeit „Der deutsche Bauernkrieg“. Auch dieser Studie ist ein stark nationaler Fokus eigen, allerdings sah der Weggefährte von Karl Marx im frühen 16. Jahrhundert keine geistige, sondern eine materielle Revolution, einen Klassenkampf. Die reformatorische Theologie wird damit zur Ideologie, zur theoretischen Grundlage für den Kampf der untersten Klasse des Feudalsystems, der Plebejer. Deren objektives Ziel und historische Aufgabe war laut Engels, die feudale durch eine bürgerliche Gesellschaft zu ersetzen. Auch wenn Engels’ Interpretation in der Geschichtswissenschaft anfänglich kaum beachtet worden ist, bildete sie zusammen mit Rankes Werk die Grundlage für die meisten Arbeiten zur Reformationszeit des 20. Jahrhunderts.

 

Nationalsozialistisch orientierten Historikern gelang es während der kurzen Existenzdauer des „Dritten Reiches“ nicht, eine einheitliche Perspektive auf das frühe 16. Jahrhundert zu entwickeln. Der historische Diskurs zeichnete sich nicht nur durch eine heterogene Sichtweise der parteitreuen Historiker aus, sondern liess auch bürgerlich-historistischen Interpretationen im Sinne Rankes weiterhin viel Raum. Im Gegensatz zu diesen traditionellen Darstellungen nahmen nationalsozialistische Ansätze den Bauernkrieg als Volksrevolution ernst. Damit spiegeln sie ein wesentliches Element von Engels’ Studie. Sie sahen im Bauernkrieg jedoch keinen Klassenkampf, sondern eine Revolution des deutschen Bauern um deutsches Recht. Im Verlauf der 1930er Jahre verfärbte sich dieser an sich innovative, hauptsächlich von Günther Franz in den 1920er Jahren entwickelte Ansatz in ein braunes Konstrukt, das kaum mehr etwas mit den spätmittelalterlichen Geschehnissen gemein hatte. Die Revolution von 1525 wurde zunehmend als germanische Revolution interpretiert, als ein Kampf um dem deutschen Volk eigene Werte, die durch die fremde römische Kirche und das fremde römische Recht verdrängt worden seien. Franz interpretierte den Bauernkrieg nun als Teil des ewigen Kampfes ums Reich, womit ihm ein eleganter Brückenschlag vom mittelalterlichen Reich zu den völkischen Idealen des „Dritten Reiches“ gelang.

 

Der Reichsbegriff war nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft diskreditiert. Die im Entstehen begriffene DDR-Geschichtswissenschaft ersetzte diesen durch die „Nation“ und entwickelte über Reformation und Bauernkrieg ein aufwändig konzipiertes Traditionsgebäude, in dem die zweite deutsche Diktatur als Verwirklichung der Ziele von 1525 erschien. Durch expliziten Rückgriff auf Engels und gleichzeitige Zurückweisung von Franz entwickelten die Historiker das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution. Demnach waren Reformation und Bauernkrieg zwei Phasen einer Revolution hin zu einer bürgerlichen Gesellschaft. Damit bewies die ostdeutsche Geschichtsschreibung nicht nur die revolutionäre Potenz des deutschen Volkes, sondern auch die Gültigkeit der Formationstheorie des Historischen Materialismus. Der Begriff Frühbürgerliche Revolution wurde in der DDR schnell zur nicht zu hinterfragenden Grundlage jeder Interpretation des frühen 16. Jahrhunderts und bildete die Aussenmauer des Diskursgefängnisses. Auch wenn dieses analytische Konzept im Verlauf der Jahrzehnte der jeweiligen politischen Entwicklung entsprechend angepasst wurde, zeichnet sich das ostdeutsche Bild von Reformation und Bauernkrieg durch eine Homogenität aus, die im „Dritten Reich“ nie auch nur ansatzweise erreicht worden war.

 

Staat und Partei übten in der DDR die totalere Kontrolle über die Geschichtswissenschaft aus als im Nationalsozialismus. Dennoch muss betont werden, dass nicht Politiker und Parteiideologen das Konzept der Frühbürgerlichen Revolution entwarfen, sondern Historiker. Diese verstanden sich in vergleichbarer Weise wie viele ihrer Fachkollegen im Nationalsozialismus als politische Wissenschaftler. Währenddem sich die DDR-Historiker am Historischen Materialismus und damit an einem teleologischen Geschichtsverständnis orientierten, sahen nationalsozialistische Historiker in der Geschichte einen immerwährenden Kampf um eine von fremden Einflüssen freie, völkische Ordnung. In der nationalsozialistischen Interpretation von Reformation und Bauernkrieg kommt damit ein Revolutionsbegriff zum Vorschein, der von einem ewigen Streben nach einem letztlich ahistorischen Ideal ausgeht. Im Gegensatz dazu sieht der Historische Materialismus in der Revolution – dem Klassenkampf – gewissermassen den Akzelerator der Geschichte, der immer zum historischen Fortschritt zielt. Beide Diktaturen richteten ihr Geschichtsbild jedoch an einer utopischen Ordnung aus: dem Ideal der „Volksgemeinschaft“ steht die klassenlose Gesellschaft gegenüber. Sowohl im „Dritten Reich“ als auch in der DDR wurde das frühe 16. Jahrhundert daher im Sinne einer Volksrevolution positiv gewertet. Über die Parallelisierung des eigenen revolutionären Systems mit Reformation und Bauernkrieg versuchten beide Diktaturen, eine in der deutschen Geschichte verankerte Herkunftserzählung zu etablieren und sich somit historische Legitimität zu verschaffen.

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