Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und leerer Stadtkassen lagern die Städte gegenwärtig immer mehr ihrer Aufgaben aus. Die Privatisierungen und die Einführung des New Public Management sollen die Verwaltungen schlanker, kostengünstiger und leistungsfähiger machen. Vor knapp hundertfünfzig Jahren sah die Situation ganz anders aus. Die alte Stadt, wie sie noch nach der Jahrhundertmitte in Erscheinung trat, besass nur einen kleinen Aufgabenkreis, der meist mit den Begriffen Hoheits- und Vermögensverwaltung umschrieben wird und sich im Wesentlichen auf die lokale Polizei, das Armen- und Vormundschaftswesen sowie die Nutzung und Veräusserung der städtischen Immobilien beschränkte. Regierung und Verwaltung, für deren Zugang allein ständische Kriterien ausschlaggebend waren, waren auf vielfältige Weise miteinander verzahnt und der Verwaltungsapparat bestand aus lose nebeneinander bestehenden Kommissionen (Kollegialoder Kommissionsprinzip). Mit der einsetzenden Urbanisierung begann Bern, wie alle europäischen Städte, seine Aufgabenbereiche Schritt für Schritt erheblich auszuweiten. Die rapide Zunahme der Bevölkerung, die Industrialisierung und der sich verändernde Lebensstil der Einwohnerschaft stellten die Stadtverwaltung vor neuartige, komplizierte und kostspielige Probleme, die in dieser Intensität und Grössenordnung noch nie da gewesen waren. Es brauchte mehr Lebensmittel, mehr Wasser und mehr Wohn- und Arbeitsraum. Es wurden mehr Güter verbraucht und mehr Abfall produziert. Um das Zusammenleben der immer grösser werdenden Einwohnerschaft zu ermöglichen, musste die Stadtverwaltung notgedrungen steuernd eingreifen. Die traditionellen P ichtaufgaben wurden reformiert, den gewandelten Anforderungen quantitativ und qualitativ angepasst und durch neue Leistungsangebote erweitert. Aufgaben und Organisation der Stadtverwaltung änderten sich grundlegend. Anstelle der blossen Verwaltung des Bestehenden bildete die Stadt das heute geläufige Profil einer modernen Leistungsverwaltung mit umfassender Daseinsvorsorge aus, die von den politischen Parteien getragen wird und deren Verwaltungsapparat sich durch eine sachkonforme und hierar- chische Struktur auszeichnet.
Die Dissertation beschäftigt sich mit dem grundlegenden Wandel der Aufgaben und der Organisation der Stadtverwaltung Berns, also der Ablösung der Hoheits- und Vermögensverwaltung durch die Etablierung der modernen Leistungsverwaltung. Dabei beginnt der Untersuchungszeitraum mit dem endgültigen Sturz der alten Stadtrepublik, der Trennung von Stadt und Kanton und der Schaffung der Einwohnergemeinde im Jahr 1832 und endet mit der Verwaltungsreform 1920/22, die mit dem Übergang zum reinen Ressortoder Direktorialsystem den letzten Schritt zur modernen Leistungsverwaltung vollzog. Im Zentrum stehen zwei Fragestellungen. Die erste zentrale Frage ist, zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen die Stadt begann, alte Aufgaben zu modernisieren sowie neue Aufgaben aufzunehmen und ihre Verwaltung auszuweiten. Hierfür galt es zunächst den Zeitpunkt und den Problemdruck festzustellen, der die kommunalpolitische Diskussion auslöste, um dann die Akteure und Leitbilder zu identifizieren. Wer beteiligte sich an der Diskussion und trieb sie entscheidend voran? An welchen neuen Techniken und wissenschaftlichen Erkenntnissen orientierte man sich und welche wurden eingeführt? Denn der mit der Industrialisierung einhergehende Innovationsfortschritt von Wissenschaft und Technik bot den Städten überhaupt erst das Instrumentarium an, um auf die durch Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und veränderte städtische Lebensbedingungen entstandenen Problemlagen reagieren zu können. Dabei wurde die Bereitschaft zum Eingreifen durch den finanziellen Handlungsspielraum der Stadt begrenzt, so dass auch die Finanzierung der neuen Aufgaben zu berücksichtigen war. Die zweite zentrale Frage betraf die Organisation der Verwaltung, die sich durch die neuen Aufgaben stark ausweitete und den neuen Gegebenheiten angepasst werden musste, sowie der Modernisierung der Regierung, wobei das Augenmerk auf der Einführung der politischen Partizipation liegt. Denn ob und welche Aufgaben übernommen wurden, hing nicht zuletzt entscheidend von der Zusammen- setzung des Gemeinde- und Stadtrates und dem Ein uss städtischer Interessengruppen ab, so dass dem politischen Gegensatz zur Kantonsregierung und der Dominanz der Burgerschaft bis zum Ende der 1880er Jahre besondere Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
Die Arbeit besteht aus drei Blöcken. Einsetzend mit dem Sturz der alten Stadtrepublik und der Schaffung der Einwohnergemeinde wird zunächst die Modernisierung des Regierungsund Verwaltungssystems, die Entwicklung der politischen Partizipation sowie die Formierung der Parteien und lokalen Interessenorganisationen dargelegt, um dann auf Ursachen und Folgen der zwischen 1850 und 1870 einsetzenden Urbanisierung einzugehen. Den Kern der Arbeit aber bilden die Kapitel, in denen die Entwicklung der einzelnen Verwaltungszweige, angefangen beim Bauwesen über die städtischen Versorgungsbetriebe, das Armenund Schulwesen sowie die Polizei bis zum Finanzwesen, behandelt wird. Das Präsidialwesen wird wegen ungenügender Quellen- und Literaturlage nur der Vollständigkeit halber aufgeführt. Dabei folgen die einzelnen Kapital einem gleichbleibenden Schema. In der Regel wird mit der Modernisierung der bereits vorhandenen Aufgaben begonnen, um dann in etwa chronologisch die Übernahme oder Ablehnung neuer Aufgaben zu beleuchten. Nur in wenigen Fällen wurden bereits vorhandene Aufgaben nicht modernisiert. Schliesslich wird am Ende jedes Kapitels die Entwicklung des betreffenden Verwaltungszweiges noch kurz unter den Gesichtspunkten der jeweils verfolgten Politik, der Ausgaben- und Organisationsstruktur beleuchtet bzw. resümiert.
Für die Arbeit wurden in erster Linie die seit 1852 erscheinenden Verwaltungsberichte der Stadt Bern, die seit 1887/88 veröffentlichten Stadtratsprotokolle und Botschaften des Stadtrates an die Gemeinde sowie die einschlägigen kantonalen Gesetze, Gemeindeordnungen und städtischen Reglemente benutzt. Darüber hinaus wurden zahlreiche zeitgenössische Broschüren und Amtsdruckschriften, die zu den verschiedensten Themen und Problemlagen in ganz unterschiedlicher Dichte publiziert wurden, verwendet und eine Fülle neuerer Darstellungen benutzt. Dabei bestand die Schwierigkeit darin, dass sich die verfügbaren Publikationen zur Verwaltungsgeschichte auf deutsches oder französisches Verwaltungsrecht beschränken, sich nur wenige Autoren mit der Geschichte der modernen Stadt befassen und die Geschichte der Stadt Bern im 19. Jahrhundert bislang nur bruchstückhaft untersucht wurde.