„Ob Kinder oder keine, entscheiden wir alleine“ oder „mein Bauch gehört mir“. Mit Slogans dieser Art versuchte die Neue Frauenbewegung in den 1960er Jahren die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf das Thema Schwangerschaftsabbruch und damit verbunden auf die Selbstbestimmung der Frau über ihren eigenen Körper zu lenken.
Obwohl in der Schweiz bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene Frauenorganisationen und linke politische Parteien sich für eine Liberalisierung bzw. Vereinheitlichung der Abtreibungsgesetzgebung einsetzten, sollte doch erst durch die zweite feministische Welle und vor allem durch Reformbewegungen wie die Schweizerische Vereinigung für straflosen Schwangerschaftsabbruch (nachfolgend SVSS) eine breite öffentlichkeitswirksame Debatte lanciert werden.
Bis 1942 existierte in der Schweiz kein eidgenössisches Strafgesetzbuch (nachfolgend StGB), was u.a. zur Folge hatte, dass Bestimmungen über Abtreibung kantonal und erst mit der Einführung des eidgenössischen StGB der Schwangerschaftsunterbruch einheitlich, jedoch restriktiv geregelt wurde. Eine legale Abtreibung war beschränkt auf eine medizinische Indikation, was soviel bedeutete, dass den Frauen zwar zum ersten Mal eine legale Unterbrechung ermöglicht wurde, jedoch nur bei Bedrohung der physischen Gesundheit der Schwangeren. Im Verlaufe der folgenden 30 Jahre setzte sich trotz des eidgenössischen StGB ein kantonal uneinheitlicher Vollzug der Bestrafung der Abtreibung bzw. des legalen Abbruchs durch. Daraus folgte eine Situation der Rechtsungleichheit der verschiedenen Kantonsbürger, was wiederum zu einem Abtreibungstourismus und einem florierenden Schwarzmarkt führte.
An dieser Stelle setzte die Kritik der SVSS an, die im Zentrum dieser Arbeit steht. Die SVSS wurde 1973 in Bern gegründet, um die zwei Jahre zuvor lancierte Initiative für einen straflosen Schwangerschaftsabbruch zu unterstützen. Ziel dieser Arbeit war, die SVSS in den Kontext des Liberalisierungsdiskurses zu stellen und einen Überblick über die Entwicklung der Abtreibungsgesetzgebung in der Schweiz zu geben, sowie verschiedene AkteurInnen – wie die Neue Frauenbewegung, die Alte Frauenbewegung oder die Gegnerschaft – und deren gesellschaftlichen Wirkungsbereich zu analysieren. Die 1970er Jahre waren in der Schweiz u.a. geprägt durch zwei Volksinitiativen und eine Standesinitiative, welche die Abschaffung jeglicher strafrechtlicher Regelungen für eine Abtreibung bzw. eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs im Sinne einer Fristenlösung forderten. Während sich die BefürworterInnen darauf beriefen, dass die Frage des Schwangerschaftsabbruchs nur auf Basis der Gewissensfreiheit entschieden werden könne, pochten die Gegner wie die katholische Kirche oder sogenannte Lebensrechtgruppen auf die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ab dem Zeitpunkt der Befruchtung. Diese antagonistischen Positionen konnten über die Forderung nach einer straffreien Abtreibung, wie sie mit der Volksinitiative von 1971 gefordert wurde, nicht auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden. Auch die eidgenössischen Räte inklusive des Bundesrates taten sich schwer, auf eine Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung hinzuarbeiten. Am Ende einer mehrmonatigen Beratungszeit in der mit dieser Thematik beauftragten Expertenkommission standen drei Vorschläge, wobei für die SVSS einzig die Variante der Fristenlösung diskutierbar war. Die Versionen der medizinischen Indikation, die gemäss der SVSS sogar noch eine Verschlechterung der gegebenen Situation zur Folge gehabt hätte und die Erweiterung um eine soziale Indikation – wobei zusätzlich zur medizinischen auch die soziale Situation der Frau begutachtet werden konnte, die Letztentscheidungsgewalt aber weiterhin in den Händen von Drittpersonen lag – waren keine akzeptablen Lösungen.
Im Zuge der Aussichtslosigkeit der ersten Initiative für eine straflose Schwangerschaftsunterbrechung und der Tendenz hin zu einer breiteren Unterstützung für eine Fristenregelung, entschied sich die SVSS 1975 eine Fristenlösungsinitiative zu lancieren, in der Hoffnung, dass dieses neue Volksbegehren eine grössere Chance auf Annahme durch Volk und Stände hätte.
War die erste Initiative geprägt von Provokationen und sollte – aus Sicht der SVSS – in erster Linie einen öffentlichen Diskurs anheizen, der über einen Expertenkreis hinaus ging, war die Besinnung auf eine Fristenlösung, die den Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten als legal definierte, vielmehr von echtem Willen geprägt, eine Veränderung der Gesetzgebung herbeizuführen. Die Fristenregelung schien für die SVSS der einzige Ausweg aus der politischen und moralischen Sackgasse.
Trotz grosser Anstrengungen während der Abstimmungskampagne und Unterstützung aus verschiedenen politischen Lagern sowie von Frauenorganisationen, sollte die Vorlage im Jahr 1977 von Volk und Ständen knapp verworfen werden. Ungeachtet dieser Niederlage stellte die SVSS ihre Tätigkeit nicht ein und avancierte in den 1980er und 1990er Jahren zur anerkannten Informationsquelle zum Thema Abtreibung. Obwohl sich nach der Abstimmung von 1977 in den einzelnen Kantonen allmählich eine liberale Handhabung im Sinne einer Fristenlösung durchgesetzt hatte, sollte diese doch erst im Jahr 2002 auf eidgenössischer Ebene gesetzlich verankert werden.
Festzuhalten bleibt, dass sich die Fragen, die sich mit der Diskussion um eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ergaben, nicht auf den Abtreibungskonflikt an sich beschränkten. Zur Debatte standen vornehmlich das Geschlechterverhältnis selbst und sein Wandel, wenngleich dies von der SVSS nicht derart drastisch und provokativ formuliert wurde wie von der Neuen Frauenbewegung.
Die Schweizerische Vereinigung für straflosen Schwangerschaftsabbruch und die von ihr ausgelöste Diskussion über eine Liberalisierung der Abtreibung in den 1970er Jahren
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2009/2010
Abstract