In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland die Prinzipien moderner Rechtsstaatlichkeit eingeführt. Das hatte Konsequenzen für die Arbeit und das Selbstbild des Richters, die in diesem Dissertationsprojekt untersucht werden sollen. Der dafür verwendete Begriff der "juristischen Persona" umfasst die Eigenschaften des Richters, die in der Praxis der Rechtsprechung und im Gerichtsalltag zum Tragen kamen wie etwa Unabhängigkeit, Wahrhaftigkeit und Gesetzestreue, darüber hinaus aber auch seine öffentliche Wahrnehmung als Vorbild für die Gesellschaft. Richter verkörperten – und verkörpern – einen besonderen Typus von Integrität. Eine zentrale Annahme des Forschungsvorhabens besagt, dass sich die richterliche Persona nicht hinreichend durch professionelle Kompetenzen beschreiben lässt, wie in der juristischen Literatur häufig unterstellt wird. Ebenso wichtige Merkmale waren Bürgerlichkeit und Männlichkeit, die den Handlungshorizont des Richters bestimmten. Das zeigt sich an der im Kaiserreich geläufigen Vorstellung, ein starker Staat benötige ein starkes Recht, und folglich auch willensfeste Richter.
Das Dissertationsprojekt liefert nicht nur einen Betrag zur Rechts- und Kulturgeschichte des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, sondern formuliert im Anschluss an Pierre Bourdieu und Bruno Latour auch einen systematischen Vorschlag, was juristisches Wissen ist. Im Mittelpunkt der bisherigen Forschung stehen gesetzliche Normen, an die der Richter gebunden ist, und die Funktion von Verfahrensregeln, die einen geordneten Gerichtsprozess garantieren. Demgegenüber soll gezeigt werden, dass epistemische Tugenden ebenfalls relevant sind für die Rechtsprechung. Solche Tugenden sind nicht auf kognitive Prozesse beschränkt, sie prägen vielmehr den gesamten Habitus des Richters. Wer in der Rechtsprechung tätig ist, sollte möglichst zurückhaltend auftreten und musste in der Lage sein, souverän durch seine Gefühlswelt zu navigieren. Die Theorie von Bruno Latour soll der Vorstellung eines autonomen Richtersubjekts entgegenwirken. Die Praxis der Rechtsprechung ist irreduzibel abhängig von Dingen wie Akten, Tischen und materiellen Ordnungssystemen, die dem Richter ein spezifisches Verhalten abverlangen. Mit dem Dissertationsprojekt wird versucht, das Recht über seine epistemischen, anthropologischen und materiellen Grundlagen aufzuklären. Dadurch wird die - von vielen gefürchtete - Abstraktheit des Rechts hinterfragt.
Die juristische Persona. Eine Wissens- und Kulturgeschichte des Richters in Deutschland, 1870-1930.
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Jakob
Tanner
Institution
Neuzeit
Lieu
Zürich
Année
2023/2024
Abstract