Die Elementarschullehrer am Ende des Ancien Régimes. Eine Kollektivbiografie der Schweizer Lehrerschaft im Spiegel der Stapfer-Enquête von 1799

Nom de l'auteur
Marcel
Rothen
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Heinrich Richard
Schmidt
Codirecteur
Prof. Dr. Danièle Tosato-Rigo
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2017/2018
Abstract

Den Ausgangspunkt für die Studie bilden die in jüngeren Forschungsarbeiten zur Schulgeschichte zunehmend in Frage gestellten negativ konnotierten Stereotype der vormodernen Elementarschullehrerschaft als von Armut geplagte „Hungerleider“ ohne jegliche Bildungskenntnisse.

 

Die mehrheitlich im Schweizer Bundesarchiv überlieferte, nach ihrem Initiator Philipp Albert Stapfer als „Stapfer-Enquête“ bekannte helvetische Elementarschulumfrage von 1799 stellt das hauptsächliche Quellenkorpus dar. Sie besteht aus rund 2’500 handschriftlichen Einzelantworten von Lehrern aus fast allen Kantonen der Helvetischen Republik. Diese Antwortschreiben erlauben einen Zugang von einzigartiger Nähe zum Alltag und Denken der Lehrkräfte und bilden aufgrund ihrer Standardisierung ein Quellenkorpus von europaweiter Bedeutung für die historische Bildungsforschung. Ergänzend wurden zahlreiche weitere Quellenbestände zur Helvetik aus kantonalen Archiven verwendet.

 

Im Vergleich zu früheren schulhistorischen Forschungen legt die Dissertation zum einen den Fokus auf die biografischen Aspekte der Umfrage, die in acht Einzelfragen von Stapfers Enquête erhoben wurden. Zum anderen wurden erstmals sämtliche Lehrerantworten aus Elementarschulen ohne räumliche Einschränkung mit in die Untersuchung einbezogen. In einer vergleichenden Vorgehensweise sind so die Personalangaben von über 2’300 namentlich bekannten Lehrkräften quantitativ ausgewertet worden, um das soziale Profil, die biografischen Werdegänge und den sozialen Status der Elementarschullehrkräfte in der Helvetischen Republik in einer kollektiven Optik analysieren zu können.

 

Als methodischer Rahmen für die Arbeit wurde der Ansatz der Kollektivbiografie gewählt, worin in doppeltem Erkenntnisgewinn quantitativ vergleichende Untersuchungen von biografischen Indikatoren und strukturellen Faktoren genauso inkludiert sind wie qualitative Betrachtungen von Einzelsubjekten als Rückschlüsse auf das Individuelle. Kollektiv-Indikatoren aus den biografischen Fragmenten der Enquête sind das Alter der Lehrkräfte bei der Amtsübernahme, die Ersttätigkeiten vor dem Amtsantritt, die geografische Herkunft, die Nebentätigkeiten zum Lehramt, die Dienstdauer und die Anzahl an Lehramtsstellen, die fachlichen Fähigkeiten, der Zivilstand und die Familiengrösse zum Zeitpunkt der Umfrageerhebung. Als Variablen für die Analyse der so gewonnenen Daten dienen zum einen räumlich-strukturelle Einflussfaktoren (Konfession, geografische Lage, Herrschaftsformen), zum anderen schulorganisatorische Faktoren (Finanzierung der Schulwohnung, jährliche Schuldauer, Einkommen) und persönliche Merkmale (Alter, Geschlecht).

 

In Bezug auf das soziale Profil beziehungsweise die soziale Herkunft der Lehrkräfte um 1800 zeigt die Studie, dass die Mehrheit der vormodernen Lehrer – Lehrerinnen waren in Elementarschulstuben noch eine grosse Ausnahme – sich entgegen der bislang proklamierten „Unterschichtszugehörigkeit“ nicht etwa aus den untersten sozialen Schichten rekrutierten, sondern aus kleinbäuerlichen und handwerklichen Milieus stammten. Doch eine ebenso markante Distinktion bestand gegenüber den typischen „Oberschichten“, die fast ausnahmslos im Lehrerkollektiv fehlten. Dies lässt den Schluss zu, dass das Lehramt als kommunale Ressource bewusst an Angehörige der lokalen „Mittelschichten“ vergeben wurde oder aber diese sich bewusst auf das Lehramt als subsistenzsichernde Ergänzungstätigkeit spezialisierten. Denn trotz der enormen lokalen Disparitäten und der Willkür hinsichtlich der Einkommensausgestaltung war längst nicht jeder Elementarschullehrer arm: Mindestens jede vierte helvetische Lehrkraft konnte bereits allein von ihrem Schuleinkommen eine Familie ernähren. Zudem stiegen trotz der finanziellen Krisen um 1800 die Lehrerlöhne – insbesondere die höheren Saläre – an vielen Orten stetig an. Als dominanter Strukturfaktor für die Ausgestaltung der Lehrerlöhne erweisen sich indes die lokal festgelegten Organisationsdeterminanten, insbesondere die jährliche Schuldauer. Die von den Lehrern beklagte Armut erscheint demnach als eine kollektive Selbstperspektive, entstanden durch die Orientierung an den höheren Einkünften der Pfarrer und als Resultat einer allmählichen Emanzipation durch die vom helvetischen Zentralstaat geschürten, freilich unerfüllten Hoffnungen auf einen Beamtenstatus.

 

Dass das Lehramt keineswegs eine kurzfristige, opportunistische Ausweichtätigkeit in Notzeiten war, kann im Vergleich der generationell differenzierten Lebensverläufe erkannt werden. Die Mehrzahl der Lehrkräfte hatte ungeachtet der Einkommenssituation bereits als ledige Jugendliche oder junge Erwachsene das Lehramt übernommen und dieses Amt in langfristiger Perspektive ausgeübt. Ferner belegen quantitative Erhebungen aus mehreren Regionen, dass es keineswegs an geeigneten Kandidaten für die Schulstuben mangelte, was den Vorwurf der fehlenden Attraktivität des Lehramtes als berufliche Spezialisierung widerlegt.

 

Mit der Übernahme des Lehramtes veränderte eine grosse Minderheit der Lehrkräfte auch ihr Berufsprofil im Sinne einer Destratifizierung. So wies mindestens ein Drittel aller helvetischen Elementarschullehrer ein diskontinuierliches Berufsprofil auf, indem auf frühere Tätigkeiten verzichtet wurde oder das Lehramt exklusiv an die StellevonErsttätigkeitentrat.EinweiteresFünftel aller Lehrkräfte war sogar ohne das Ausüben einer Ersttätigkeit direkt und damit bewusst Lehrer geworden. Folglich kann der Beginn der Professionalisierung der Lehrertätigkeit trotz noch fehlenden einheitlichen Ausbildungsstrukturen bereits in den Lebensverläufen der Lehrkräfte vor 1800 gefunden werden und intrinsische Motive müssen angesichts der disparaten Besoldungsverhältnisse eine wichtigere Rolle als ökonomische Überlegungen gespielt haben. Sozialer Aufstieg durch gezielte Stellenwechsel an besser bezahlte Schulstellen an zentralörtlichen Schulen mit höherem Renommee wurde dagegen noch kaum als Handlungsstrategie versucht.

 

Die Gleichung, dass mit den tiefen Lehrerlöhnen automatisch Armut und damit ein tiefer sozialer Status einherging, ist nach den gewonnenen Erkenntnissen zu verwerfen. Die vielfach praktizierte pragmatische Verbindung des Lehramtes mit Kirchenhilfsdiensten verlieh den Lehrkräften ein amtsgebundenes Ansehen, unabhängig vom Ansehen vor der Amtsübernahme und losgelöst von den realen Einkommensverhältnissen. Doch auch aus der Mittlerstellung zwischen der lokalen Geistlichkeit und den Gemeindebürgern konnte immaterielles soziales Kapital resultieren, zumal die Lehrkräfte als Schriftkundige über ein Spezialwissen verfügten und daher zur lokalen Funktionselite zählten.

 

Das hohe immaterielle soziale Kapital schlug sich für die Lehrerschaft besonders im überdurchschnittlich hohen Heiratsverhalten nieder, schuf jedoch auch ein ambivalentes Handlungskorsett. Einerseits galten sozioökonomische Heiratsschranken für Lehrkräfte de facto nicht mehr, doch resultierte aus dem Amt andererseits die Pflicht zur Heirat und Familiengründung, um das soziale Kapital des Amtes überhaupt durch das Ausüben der moralischen Vorbildfunktion zu aktivieren. Zudem wirkten auch ökonomische Mechanismen durch die Notwendigkeit einer Ehefrau als Rollenergänzung in der Hausökonomie aufgrund der knapp bemessenen Besoldung oft als implizite Zwänge.

 

Regionale serielle Quellenbestände halten des Weiteren in der Summe einen hohen Grad an Zufriedenheit mit den fachlichen Leistungen der Lehrkräfte fest, oftmals im schroffen Kontrast zu kritischen Einzelquellen, die gleichzeitig fachliche Unfähigkeit attestieren. Schwarzmalerei hatte bei den Verantwortlichen des Bildungswesens jedoch System, um Aufmerksamkeit für Reformprojekte zu generieren. Doch waren gerade die vielfach kritisierten Elementarschullehrer die zentralen Motoren der um 1800 bereits weitgehend erreichten flächendeckenden Alphabetisierung des Landes, was die Leistungen der Lehrerschaft in ein neues Licht rückt.

 

Durch die konsequent quantitativ orientierte Vorgehensweise und die Konzentration auf serielle Quellenbestände schafft die Dissertation sowohl einen kritischen Spiegel zur Neubewertung von bisherigen Erkenntnissen zur vormodernen Elementarschule als auch die revisionistische Dekonstruktion von zahlreichen Stereotypen, die der vormodernen Lehrerschaft in der Historiografie der Bildungsforschung zugesprochen worden sind.

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