Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Rohr
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2019/2020
Abstract
Während Jahrhunderten haben die Bewohnerinnen und Bewohner der Alpen Strategien entwickelt, um mit der Lawinengefahr umzugehen. Diese Strategien haben nicht nur den Lebensraum, sondern auch die Kultur dieser Bevölkerung massgeblich mitgeprägt. Dass der Umgang mit der Lawinengefahr gerade in der Schweiz bis heute nicht an Aktualität eingebüsst hat, zeigt dessen Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO im Jahr 2018.
Seit dem Winter 1936/37 werden die Schadenslawinen in der Schweiz institutionell vom Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) erfasst. Trotz der Relevanz des Themas aus kulturhistorischer Perspektive ist der Forschungsstand diesbezüglich lückenhaft. Ein zentraler Grund dafür dürfte der Mangel an schriftlichen Quellen vor dem 18. Jahrhundert sein, welcher dazu führt, dass aus dieser Zeit nur wenige Berichte von Schadenslawinen erhalten sind. Für die Zeit vor 1936 lassen sich vor allem Handschriften und (Natur-) Chroniken finden, die neben dem Lawinenereignis an sich auch auf Deutungs- und Bewältigungsmuster schliessen lassen.
Auf regionaler Basis wurde bis anhin nur punktuell untersucht, wie Lawinen gedeutet wurden und wie die alpine Bevölkerung mit ihnen umging. Um diese Forschungslücke teilweise zu schliessen, untersucht diese Arbeit den Umgang mit Lawinen in der schneereichen Region des Engadins und richtet ein besonderes Augenmerk auf rätoromanische Quellen. Der untersuchte Zeitraum wurde massgeblich von der Verfügbarkeit der Quellen bestimmt; er erstreckt sich schwerpunktmässig vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, umfasst aber punktuell auch Angaben zu früheren Ereignissen.
Um einen Überblick über die Lawinenereignisse im untersuchten Zeitraum zu erhalten, wurde eine Chronik mit insgesamt 167 Schadenslawinen erstellt, welche sich anhand der Quellen rekonstruieren lassen. Neben dem erwähnten Überblick erlaubt es die Aufstellung, Ereignisse zu identifizieren, die besonders gut dokumentiert wurden und sich für eine tiefergehende Analyse eignen. Für diese weiterführende Analyse wurden zehn Einzelereignisse in unterschiedlichen Gemeinden und Zeiträumen ausgewählt. Gemeinsam ist diesen Ereignissen, dass die vorhandenen Quellen auch eine gewisse Diversität aufweisen, wodurch das Geschehene aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden kann.
Für die Untersuchung der Deutungs- und Bewältigungsmuster wurden in der Literatur beschriebene Muster, welche grösstenteils als für den gesamten Alpenraum gültig aufgefasst werden, den Einzelereignissen und weiteren Quellen aus dem Engadin gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung erlaubt es einerseits, den Wandel der Deutungs- und Bewältigungsmuster im Engadin über den Zeitraum hinweg nachzuzeichnen, andererseits regionale und konfessionelle Besonderheiten hervorzuheben.
Die Untersuchung hat ergeben, dass auch im Engadin ursprünglich religiöse Deutungs- und Bewältigungsmuster von Schadenslawinen im Vordergrund standen. Die Menschen glaubten an eine Strafe Gottes, die nur mit einem christlicheren Lebensstil gemildert werden konnte. Mit dem Aufkommen der empirischen Wissenschaften begannen sich die Menschen aktiv gegen Lawinenstürze zu schützen. Mit Schutzverbauungen gegen Lawinenstürze wurden seit 1868 nach und nach die gefährlichsten Lawinenzüge verbaut. Es kann jedoch festgehalten werden, dass es zwischen den verschiedenen Deutungsmustern zu ständigen Überschneidungen kam und auch heute nicht-technische Strategien noch eine gewisse Wichtigkeit beibehalten haben. Mit einer Lawinenverbauung können zwar zukünftige Ereignisse grösstenteils verhindert werden; um ein Ereignis und beispielsweise den Verlust nahestehender Personen zu verarbeiten, sind mentale Bewältigungsmuster jedoch nach wie vor zentral
Schliesslich hat die vertiefte Auseinandersetzung mit den Einzelereignissen gezeigt, dass die Engadiner Landschaft und Bevölkerung bis heute von den Lawinenereignissen der Vergangenheit geprägt sind. Ein gutes Beispiel dafür ist das Unterengadiner Dorf Ftan, wo ein Lawinenkegel aus dem Jahr 1682 im Sinne eines architektonischen Mahnmals bis heute nicht verbaut wurde und gar den Namen Lavinas trägt. So werden Bevölkerung und Besuchende gleichermassen an das Geschehene erinnert.
Das Engadin als Untersuchungsgegenstand verdeutlicht exemplarisch, dass eine Einstufung des Umgangs mit der Lawinengefahr als immaterielles Kulturerbe absolut gerechtfertigt ist. Möglicherweise bewegt dieses Emblem die Wissenschaft gar dazu, sich in Zukunft noch fundierter mit den Auswirkungen der Lawinen auf einzelne Berggebiete auseinanderzusetzen.