Bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Unterstützung Behinderter in der Schweiz weitgehend von privater Hilfe (wohltätige Vereine) geprägt. Bereits im 19. Jahrhundert waren erste, privat initiierte Erziehungsanstalten (später Heime bzw. Sonderschulen genannt) entstanden, die sich der Bildung und Erziehung bzw. der heilpädagogischen Förderung behinderter Kinder annahmen. Mit dem in der Bundesverfassung von 1874 verankerten Schulobligatorium konnte die Förderung behinderter Kinder durch die öffentliche Hand erstmals auf einer rechtlichen Grundlage eingefordert werden. Um die Jahrhundertwende, einer Zeit, in der sich der Staat durch sozialpolitische Intervention für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zu sorgen begann, wurden Erziehungsanstalten für behinderte Kinder vermehrt subsidiär unterstützt und beaufsichtigt; gleichzeitig wurden zu diesem Zweck vereinzelt kantonale Gesetze erlassen. Die Unterstützung der Schulung und Erziehung Behinderter durch die öffentliche Hand erfuhr in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der Schaffung der Invalidenversicherung (1960) eine Intensivierung und verlagerte sich schwerpunktmässig auf die Eben des Bundes. Mit der wachsenden finanziellen Unterstützung privater Sonderschulen ging eine Verdichtung der gesetzlichen Regelung der heilpädagogischen Praxis einher.
Vor diesem Hintergrund wird die Hypothese aufgestellt, dass mit der Formierung des Sozialstaates auf Kantonsund Bundesebene die Unterstützung privater Sonderschulen durch die öffentliche Hand zunahm und der Staat dadurch verstärkt Einfluss auf diese Institutionen und deren Erziehungspraxis und -konzepte erlangte. Die Hypothese wird anhand des Fallbeispiels des Heimes Oberfeld in Marbach im Kanton St. Gallen überprüft, welches im Jahre 1910 durch die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St. Gallen (GGK) für so genannte „schwachsinnige“ Kinder (Kinder mit einer geistigen Behinderung) gegründet wurde. Konkret geht es um die Frage, wie sich die Erziehungspraxis und Erziehungskonzepte im Heim Oberfeld infolge des Einflusses der sozialstaatlichen Entwicklung in der Schweiz bzw. infolge staatlicher Intervention im 20. Jahrhundert verändert haben. Im ersten Teil der Studie werden die Grundzüge der sozialstaatlichen Entwicklung in der Schweiz und die Genese der heilpädagogischen Praxis sowie der Anstaltserziehung in der deutschsprachigen Schweiz des 19. und frühen 20. Jahrhunderts skizziert. Im zweiten Teil der Studie wird auf das Fallbeispiel des Heimes Oberfeld eingegangen. Es werden die Gründungsumstände des Heimes dargestellt sowie dessen Trägerschaften (GGK, ab 1994 Stiftung Heim Oberfeld) und Führungsorgane charakterisiert. Der dritte Teil der Studie gilt der Veränderung der Erziehungspraxis und -konzepte des Heimes infolge des Einflusses sozialstaatlicher Entwicklung bzw. staatlicher Intervention. Bei der Darstellung der gesetzgeberischen Tätigkeit des Bundes und des Kantons St. Gallen bezüglich der schulischen und erzieherischen Förderung Behinderter (Leistungen/Bestimmungen) sowie der Einbettung der Sonderschulen in die st. gallische Schulverwaltung werden die beiden Zeitperioden 1910-1959 sowie 1960-2000 auseinander gehalten. Vor diesem Hintergrund wird der Wandel der Erziehungspraxis und -konzepte des Heimes Oberfeld anhand der Bereiche „Klientel und Personal (Lehrkräfte/Erzieherpersonal)“, „Heimfamilie“, „Schulunterricht“ sowie „Arbeit und Nachbetreuung Ehemaliger“ aufgezeigt.
In der Zeit von 1910-1959 wurde das Heim Oberfeld in erster Linie durch den Kanton unterstützt – der Bund leistete indirekte Beiträge. Dabei nahm der Kanton mehrheitlich mittels allgemein formulierter Bedingungen Einfluss auf den Heimbetrieb. Davon betroffen waren primär die Bereiche der Klientel und des Personals, während die übrigen Bereiche weitgehend von privater Initiative geprägt waren. Mit der Schaffung der Invalidenversicherung kam es ab den 1960er-Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen. Zum einen erhöhten sich die Leistungen der öffentlichen Hand. Zum anderen ging damit die Einflussnahme des Bundes auf die Sonderschulen einher. Um von diesen Leistungen profitieren zu können, musste das Heim Oberfeld Bedingungen und Auflagen der Invalidenversicherung, aber auch des Kantons erfüllen. Diese wirkten sich nunmehr auf alle untersuchten Bereiche des Heims aus. Allerdings wurden wesentliche konzeptionelle Veränderungen nach wie vor primär vom Heim initiiert. Sollen die Auswirkungen der staatlichen Unterstützung und Intervention auf die Erziehungspraxis und -konzepte des Heimes auf einen knappen gemeinsamen Nenner gebracht werden, so lassen sie sich mit einer wachsenden Professionalisierung der Betreuung und Unterrichtung der Kinder umschreiben. Die Studie bestätigt am Fallbeispiel des Heimes Oberfeld die eingangs aufgestellte Hypothese.
Der Wandel der heilpädagogischen Praxis und Konzepte im Zuge sozialstaatlicher Entwicklung der Schweiz im 20. Jahrhundert. Das Heim Oberfeld in Marbach (Kanton St. Gallen) - eine Fallstudie.
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2010/2011
Abstract