Das Zucht- und Waisenhaus St. Leonhard 1661 – 1689

Nom de l'auteur
Noëmi
Schöb
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Simona
Boscani Leoni
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2020/2021
Abstract
Das Zucht- und Waisenhaus St. Leonhard in St. Gallen entstand 1663 und ist Untersuchungsgegenstand dieser Masterarbeit. Einerseits sollten in der angegliederten Strumpfmanufaktur Waisenkinder arbeiten, andererseits diente die Anstalt als Zuchthaus für Erwachsene. Die Arbeit untersucht, welche Ziele sich die Institution bei der Gründung setzte, wie sie organisiert war und welche Regeln sie anordnete. Es soll jedoch auch gefragt werden, wie und ob diese Ziele, Strukturen und Regeln tatsächlich umgesetzt wurden. Damit berührt die Arbeit institutions-, wirtschafts-, sozial- und alltagsgeschichtliche Themen. Die Fragen beziehen sich auf St. Leonhard, wodurch sich die Untersuchung auf den Raum der Stadt St. Gallen begrenzt. Zeitlich beginnt die Arbeit mit dem Plan zur Errichtung des Zucht- und Waisenhauses 1661 und endet mit der ersten Schliessung 1689. Die Grundlagen der Untersuchung sind erstens die Zucht- und Waisenhausordnungen, zweitens die Aufzeichnungen über Einnahmen und Ausgaben und drittens die Protokolle des Zucht- und Waisenhauses. Das Modell solcher Arbeitsanstalten stammt aus Amsterdam. Zuchthäuser kommen in der Forschung häufig in Zusammenhang mit Sozialdisziplinierungstheorien vor. Mit den genannten Quellen sollen allerdings nicht nur die obrigkeitlichen Vorschriften, sondern die Handlungsspielräume der Insass*innen, der Waisen und des Personals zentral sein. Die Ordnungen zeigen, dass die Obrigkeit die Anstalt aus sozialpolitischen, wirtschaftlichen und erzieherischen Gründen eröffnete. Die bestehenden Fürsorgestrukturen waren überlastet. Zudem stellte die Obrigkeit einen Bildungsmangel fest, da viele Kinder ihren als „liederlich“ eingeschätzten Eltern nacheifern würden. Sie wollte sowohl die Kinder als auch die Erwachsenen arbeitswillig machen und ihnen bürgerliche Tugenden nahebringen. Durch den Arbeitszwang erhoffte sie sich ausserdem einen finanziellen Gewinn. Die wirtschaftlichen Interessen zeigten sich an den Pflichten der Angestellten. Die hierarchisch strukturierte Verwaltung hatte eine strenge Aufsichtspflicht, damit die Arbeiten fristgerecht und exakt durchgeführt wurden. Die Ordnungen gaben konkrete Handlungsanweisungen in diversen Lebensbereichen, so wurde der Tagesablauf der Kinder und der Insass*innen stark strukturiert. Diese Tagesordnung hing eng mit der Unterbringung der Waisen im Spital zusammen. Die meisten Kinder wohnten im Spital und arbeiteten tagsüber in der Strumpfstrickerei zu St. Leonhard. Die Institution St. Leonhard stand in einer grossen Abhängigkeit von verschiedenen Ämtern, da diese sowohl einen finanziellen Beitrag leisteten als auch einen Teil der Fürsorge übernahmen. Die quantitative Auswertung der Einnahmen und Ausgaben ergab, dass das Zucht- und Waisenhaus die wirtschaftlichen Ziele nicht erreichte. Die Einnahmen durch die produzierten Strümpfe und das Textilmaterial waren nicht so hoch wie erhofft. Die Ausgaben für das Personal, den Unterhalt sowie die benötigten Materialien zur Produktion von Strümpfen überstiegen die erwarteten Kosten. Ähnlich ging es auch anderen Zucht- und Waisenhäusern in der Alten Eidgenossenschaft. Das Handwerk des Strumpfstrickens war eine verbreitete Tätigkeit in Arbeitshäusern. Durch die Analyse der Rechnungsführung konnte nachgewiesen werden, dass der Zuchtmeister die Rechnungen der ersten sechs Gründungsjahre verfälschte. Er wollte wohl die finanzielle Lage besser darstellen und die hohen Schulden verdecken. Durch die qualitative Analyse der Protokolle konnten die Gründe für Einweisungen ermittelt werden. Die Insass*innen kamen beispielsweise wegen Arbeitslosigkeit, Armut oder aufgrund ihres „liederlichen“ Lebens ins Zuchthaus. Besonders für Kinder galt der Aufenthalt als Chance für eine Lehre. St. Leonhard konnte den Kindern allerdings keine zünftisch anerkannte Ausbildung bieten. Die Kinder mussten auch nach langjährigem Aufenthalt im Zuchthaus eine Lehre bei einem*einer zünftischen Meister*in machen. Auch für die Insass*innen brachten die einfältigen Arbeiten keine nachhaltigen Vorteile. Sowohl das Zuchthauspersonal als auch die Insass*innen setzten die Ordnungen oft nicht nach obrigkeitlichem Wunsch um. In den Protokollen sind Belege von diversen Strafen wie der Klotzstrafe, Schlägen, Zusatzarbeit oder der Stadtverweisung vorhanden. Im Alltag gab es Konflikte, Grenzübertritte, Reibereien und Flucht. Dennoch existierten freiwillige Eintritte, denn St. Leonhard war nicht nur ein Strafort, sondern ebenso ein Zufluchtsort. Einige wehrten sich gegen die Einweisungen, aber viele waren froh um die Möglichkeit zur Ausbildung oder zur Arbeit. Die Insass*innen und Waisen hatten einen Handlungsspielraum, widersetzten sich den Regeln und trafen selbst Entscheidungen. In der Arbeit konnte durch einen alltagsgeschichtlichen Ansatz die agency – die Handlungsfähigkeit – der Insass*innen und der Waisen gezeigt und damit die Sozialdisziplinierungstheorien entkräftet werden.

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