Aus der Perspektive der deutschen Kirchengeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert wird in aller Regel nur auf die Beziehung Luthers zur Tradition der deutschen Mystik abgehoben und die Frage nach dem Verhältnis zwischen der mittelalterlichen Mystik und der reformatorischen Theologie in anderen Ländern ausklammert. Die Tagung hat das Ziel, diese Engführung zu korrigieren, indem sie das Spezifikum des Verhältnisses zwischen Mystik und Reformation im Schweizer Kontext anhand konkreter Orte, Personen, Ereignisse und Entwicklungen herausarbeitet.
Gemeinhin gilt die christliche Mystik als ein Phänomen, das in einer mehr oder weniger grossen Spannung zu den offiziellen, dogmatisch wie liturgisch kodifizierten Formen der Glaubenslehre und der Frömmigkeitspraxis steht. So führt das für die Mystik typische Bewusstsein der unmittelbaren Einheit mit Gott nicht nur zu einer legitimen Verinnerlichung und Individualisierung der Gottesbeziehung, sondern geht nicht selten auch mit einer Relativierung, wenn nicht sogar Ablehnung der äusseren, institutionalisierten Wege der kirchlichen Heilsvermittlung Hand in Hand. Es ist daher kein Zufall, dass die mittelalterliche Mystik des deutschen Sprachraums (auch «Rheinische Mystik» genannt), namentlich in Gestalt ihres prominentesten Vertreters Meister Eckhart, von der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert als Wegbereiterin der Reformation angesehen wurde.
Die Gründe dafür erscheinen zunächst einmal nachvollziehbar, denn das für die Mystik prägende Glaubensverständnis besitzt beträchtliche Schnittmengen mit dem reformatorischen Gedankengut: Die Vorstellung einer von den religiösen Vollzügen des Menschen abhängenden Werkgerechtigkeit wird dabei ebenso abgelehnt wie ein übertriebener Heiligen- und Reliquienkult sowie all jene Frömmigkeitsformen, die mehr auf äusserliche rituelle Vollzüge als auf innere Umkehr abzuzielen scheinen. Auch der Gebrauch der Volkssprache zur Artikulation mystischen Gedankenguts ist ein Motiv, das Luthers Anliegen einer volkssprachlichen Bibelübersetzung und Glaubensunterweisung vorwegzunehmen scheint. Dieses Bestreben, die deutschsprachige Mystik zur Konstruktion einer konfessionellen Identität heranzuziehen, ist jedoch nicht unproblematisch, da es über der Betonung der zweifellos vorhandenen Gemeinsamkeiten von mystischem und reformatorischem Gedankengut die ebenso erkennbaren Unterschiede vergisst. Überdies wird aus der Perspektive der deutschen Kirchengeschichtsschreibung in aller Regel nur auf die Beziehung Luthers zur Tradition der deutschen Mystik abgehoben und die Frage nach dem Verhältnis zwischen der mittelalterlichen Mystik und der reformatorischen Theologie in anderen Ländern ausgeklammert.
Die Tagung stellt sich die Aufgabe, diese Engführung in der Mystikforschung zu korrigieren, indem sie die komplexe Beziehung zwischen der spätmittelalterlichen Mystik und der Reformation im helvetischen Kontext in den Mittelpunkt stellt. Die zu behandelnden Themenfelder lassen sich unter folgenden Fragestellungen zusammenfassen:
Leitfragen:
- Inwiefern kann man überhaupt im allgemeinen Sinne von «der» Mystik reden? Wie positioniert sich die Reformation gegenüber der spätmittelalterlichen Passions- und Leidensmystik einerseits und der von Meister Eckhart und Johannes Tauler vertretenen Mystik des «Lassens» und der «Gottesgeburt» andererseits?
- Welche Form der theologischen Anthropologie ist jeweils für die Mystik bzw. die Reformation massgebend? Liegt der Akzent eher auf der Gottebenbildlichkeit und der «Vergöttlichung» (deificatio) des Menschen oder auf seiner Sündhaftigkeit und Verworfenheit?
- Wie verhält sich die mystische Aufwertung des «Buches der Erfahrung» (liber experientiae) zur reformatorischen Betonung des Schriftprinzips (liber Sacrae Scripturae)?
- Wie wird in der spätmittelalterlichen Mystik und der Reformation die Beziehung zwischen «Innen» und «Aussen» als geistlichen Räumen verstanden? Besteht eine Spannung zwischen dem Gedanken der mystischen Innerlichkeit und Passivität einerseits und dem aktiven Engagement in der Welt andererseits? Welche Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Institutionenkritik zu, und welche konkreten Formen nimmt sie an?
- Gibt es innerhalb der Schweiz gewisse «geistliche Geographien», die erklären können, wieso die Mystik auf reformatorischer Seite teils positiv rezipiert, teils abgelehnt wurde? Welche mystischen Zentren gab es in der alten Eidgenossenschaft (z.B. die Oberrheingegend), und lassen sich diesbezüglich Unterschiede zwischen der Deutschschweiz (Strassburg) und der Suisse Romande (Genf) ausmachen?
- Welche Bedeutung kommt der Tatsache zu, dass sich die spätmittelalterliche Mystik zwar nicht ausschliesslich, aber doch vornehmlich im klösterlichen Kontext entwickelt hat? Hat die theologisch motivierte Ablehnung des Ordensstandes sowie des Reklusentums einen erkennbaren Einfluss auf die reformatorische Sicht der Mystik, oder werden die Inhalte des mystischen Schrifttums davon unabhängig rezipiert? Bedeutet die Aufhebung der Klöster im reformierten Teil der Schweiz ein Verschwinden der mystischen Frömmigkeit oder lediglich ihre Transformation?
- Wie haben sich die damals bestehenden Klöster des helvetischen Raumes sowie einzelne Mystikerinnen und Mystiker zu der im Entstehen begriffenen Reformation positioniert? Lassen sich diesbezüglich Unterschiede zwischen Männer- und Frauenklöstern beobachten?
- Steht die innerreformatorische Rezeption der spätmittelalterlichen Mystik in unmittelbarer Beziehung zum Phänomen der «Schwarmgeisterei» (wie etwa bei Andreas Karlstadt), und führt umgekehrt die Ablehnung des spiritualistischen Schwärmertums auch automatisch zu einer Verwerfung jeder Form von Mystik?
- Welche Rolle spielt die Devotio moderna in der damaligen geistesgeschichtlichen Gemengelage? Sieht sie sich eher in Kontinuität zur mittelalterlichen Mystik, oder kritisiert sie diese im Namen einer präreformatorisch anmutenden, biblisch-christologisch fundierten Frömmigkeit?
- Wie positionieren sich die Gegner der Reformation gegenüber der Mystik? Lehnen sie sie als potentielle Inspirationsquelle reformatorischen Denkens ab, oder sehen sie sie unter gegenreformatorischen Gesichtspunkten als Bollwerk einer rechtgläubigen, innerkatholischen Form verinnerlichter Frömmigkeit?
Diesen Fragen will die Tagung nachgehen und dabei das Spezifikum des Verhältnisses zwischen Mystik und Reformation im Schweizer Kontext anhand konkreter Orte, Personen, Ereignisse und Entwicklungen herausarbeiten.
Hiermit laden wir Kolleginnen und Kollegen und insbesondere Forscherinnen und Forscher aus dem wissenschaftlichen Nachwuchs zur Bewerbung um Kurzvorträge (20 Minuten) im Rahmen von Panels ein. Kurzvorträge können in deutscher oder englischer Sprache gehalten werden. Bis zum 31. März 2025 können short paper proposals per Email eingereicht werden. Bitte senden Sie Ihren Vortragstitel samt Abstract von 1'000 Zeichen (incl. Leerschlägen) zugleich an: martina.roesner@thchur.ch und tobias.jammerthal@uzh.ch