Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Marina
Cattaruzza
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2012/2013
Abstract
Nach der Gründung des gemeinsamen Staates von Tschechen und Slowaken im Jahr 1918 entwickelte sich in der slowakischen Landeshälfte ein starker slowakischer Nationalismus, der sich gegen die demokratische Verfassung richtete. Er ist als überwiegend antiliberal und modernisierungsfeindlich zu charakterisieren und bediente sich einer ethnisch-kulturellen Argumentation. Ab 1930 liessen sich auch breite Bevölkerungsschichten, befördert durch die Weltwirtschaftskrise, von rechtspopulistischen Ideen mobilisieren. Massgeblich waren daran junge, aufstrebende Intellektuelle beteiligt, die rasch in die noch kleine slowakische Elite aufstiegen.
In der Forschungsarbeit wurde untersucht, mit Hilfe welcher kulturellen Praktiken und Techniken der slowakische Nationalismus zur Leitkategorie in der slowakischen Gesellschaft wurde. Schwergewichtig wurde dieser Frage für den Zeitraum von 1918 bis 1939 nachgegangen, ergänzt mit einem Ausblick auf die Jahre bis 1945. Die Ausgangshypothese besagt, dass kulturelle Praktiken von Intellektuellen die Kategorie des Nationalen massgeblich in der Gesellschaft durchzusetzen halfen.
Methodisch geht die kulturhistorische Untersuchung nach einem soziologischen Praxisbegriff vor. Dem Praxisansatz zufolge ist eine Nation vor allem eine Kategorie, die in einer Gesellschaft als wesentliche Deutungsinstanz etabliert werden soll. So wurden die literarischen und publizistischen Werke der sich formierenden intellektuellen Elite untersucht, mit denen sie nationale Identifikationsund Deutungsangebote schaffen wollte. Die Werke wurden nach den sich darin manifestierten kulturellen Mustern untersucht.
Zum ersten Mal wurden die mit dem Fokus auf der nationalistischen Praxis ausgewählten publizistischen und literarischen Texte zusammenhängend untersucht. Sie wurden nach sozialen und biografischen Kriterien zusammengestellt sowie nach der öffentlichen Bedeutung des jeweiligen nationalistischen Engagements. Als gesellschaftliche Praxisbereiche wurden kulturelle Institutionen, die Presse und die Literatur abgegrenzt und untersucht. Diese drei Kommunikationsräume waren wesentlich durch die Akteure miteinander verbunden.
Die nationalistischen Intellektuellen waren in der Regel ländlich sozialisiert und erlebten auf ihrem Bildungsweg die soziale und kulturelle Durchmischung in den Städten als Bedrohung. Bereits durch katholische Gemeindeschulen geprägt, erfuhren sie später in der Grossstadt wiederum wohlfahrtliche, soziale und kulturelle Unterstützung von christlichen Einrichtungen. Die katholische Kirche selbst war durch den neuen Zentralstaat unter einen erheblichen Säkularisierungsdruck geraten. So gingen die katholische Kirche und aufstrebende nationalistische Intellektuelle eine für beide Seiten vorteilhafte Allianz ein.
Gemäss der Untersuchung der literarischen Praxis versuchten die Intellektuellen, die Nation als Gefühlsgemeinschaft in Analogie zur christlichen Glaubensgemeinschaft zu etablieren. Sie gründeten ihre nationalistischen Entwürfe und Vorstellungen auf christlichen Mythen und transformierten Elemente des christlichen Narrativs wie Martyrium, Opfer, Auferstehung und Reinigung in nationale Narrative. Besonders eignete sich die fiktionale Literatur dafür, was detailliert an Romanen und Gedichtzyklen von exemplarischen Vertretern der jungen nationalistischen Elite herausgearbeitet wurde. In der publizistischen Rhetorik wurden mythische Verfahren weniger angewendet. Doch selbst in der institutionellen kulturellen Praxis lassen sich Spuren von Mythentransformationen nachweisen.
Den ideellen Kern im Denken vieler slowakischer Nationalisten in der Zwischenkriegszeit bildete der Mythos vom nationalen Martyrium. Das Trauma von der fehlenden oder angeblich verlorenen Staatlichkeit öffnete einen kreativen Raum für die Konstruktion eines nationalen Gedächtnisses, in das sich die individuell, in der Gegenwart erfahrenen Zumutungen bestens einfügen liessen. Die oppositionellen Nationalisten richteten sich in Zeitungen, Gedichten und Romanen vor allem gegen die tschechische Kultur und den liberal-demokratischen Zentralstaat. Die tschechische Kultur wurde als die kapitalistische, egoistische, säkulare und amoralische Macht verurteilt, die der slowakischen Nation ein neuerliches Joch anlegte und somit die Kontinuität des nationalen Martyriums verschuldete.
Eine wichtige geistige Ressource stellte für führende slowakische Autonomisten der polnische Nationalismus dar, wobei sie selbst aktuelle Grenzstreitigkeiten ausblendeten. Zur Vorbildfunktion der polnischen Kultur in der Vergangenheit und Gegenwart bekannten sich die Intellektuellen uneingeschränkt. Polen übernahm in dieser Hinsicht die Rolle eines externen Heimatlandes für die sich als nationale Minderheit gebenden slowakischen Nationalisten. Diese Prozesse spielten sich wesentlich auf der symbolischen Ebene ab, da sie auf der katholischen Ikonographie und Prägung beruhten.
Im Gegensatz zum polnischen Nationalismus hatte der deutsche Nationalsozialismus bis 1938 für slowakische nationalistische Akteure nur eine geringe Bedeutung. Die Untersuchung journalistischer Texte, literarischer Praktiken und institutioneller Aktivitäten zeigt, dass es für die breite Rezeption nach 1939 erstaunlich wenig Vorlauf in der Zwischenkriegszeit gab. Abgesehen vom Kriterium des autoritären Regimes strahlte der Nationalsozialismus zu wenig auf das Gros der nationalistischen Slowaken aus: Die Deutschen waren historisch betrachtet das Problem der Tschechen, es fehlte eine konfliktträchtige räumliche Nachbarschaft, und sprachlich-kulturell waren die Deutschen und auch die deutschsprachige Minderheit in der Slowakei eher Repräsentanten der alten Oberschicht. Auch der restriktive Umgang des säkular auftretenden nationalsozialistischen Regimes mit den Kirchen schreckte die klerikalen Nationalisten ab.
Während die Nationalisten die christlich-mythologischen Konzepte nutzten, halfen sie zugleich der Kirche, sich in der nationalisierenden Gesellschaft besser zu verankern. Die Politisierung christlicher Werte und Vorstellungen führte allerdings auch zur Entwicklung autoritärer Elemente in der nationalistischen intellektuellen Praxis. Die Intellektuellen stellten ideelle Anschlussmöglichkeiten an den Nationalsozialismus für das autoritäre Regime ab der Autonomiephase bereit. Im Gegenzug wurden sie mit wichtigen Positionen in Staat und Verwaltung belohnt.
Folgerichtig waren die prominenten Intellektuellen unter den Nationalisten im slowakischen Staat ab 1939 unter den radikalen, das heisst säkularen Nationalisten zu finden. Denn sie erschufen überhaupt erst die Konzepte der säkularen nationalistischen Religion. Sofern sie der in die Zukunft weisenden Quasi-Religion des Nationalismus eine Stimme gaben, waren sie der Funktion nach die Propheten des Nationalen. Doch lag ihrer prophetischen Praxis die Botschaft einer ins Reale transformierten spirituellen Reinigung zugrunde. Das machte sie zu eigentlichen Aposteln der Reinheit.