„Von der Scheune ins Treppenhaus: Brandstiftungsdelinquenz im Amtsbezirk Bern im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert“

Nom de l'auteur
Céline
Graf
Type de travail
Mémoire de master
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Joachim
Eibach
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2014/2015
Abstract


Um 1900 transformierte sich Bern von einer hauptsächlich agrarisch und handwerklich geprägten Gesellschaft zu einer modernen Industrie-, Konsum- und Dienstleistungsgesellschaft. Vor diesem Hintergrund wird in der Arbeit Brandstiftungsdelinquenz im Amtsbezirk Bern zwischen 1861 und 1939 untersucht. Erstmals steht in einer kriminalhistorischen Studie zum Thema der Brandstiftung eine Stadtregion im Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert im Fokus. Als Quellengrundlage dienen über 50 Falldossiers des kantonalen Obergerichts aus dem Staatsarchiv Bern, die alle Untersuchungsakten von der Anzeige bis zum Urteil enthalten. Konstanz und Wandel von Delikt und Delinquenten werden durch eine Kombination von sozialhistorisch-quantifizierenden und kulturwissenschaftlich-hermeneutischen Methoden ergründet.
Für die Geschichtswissenschaft ist die Untersuchung von delinquentem und sozial abweichendem Verhalten von grossem Interesse, weil dieses als Sonde für gesellschaftliche Problemlagen und Wandlungsprozesse benutzt werden kann. Ziel der Arbeit ist es, herauszufinden, wie sich die Brandstiftungsdelinquenz in Bezug auf die räumliche und zeitliche Verteilung, die Sozialprofile, Täter-Opfer-Beziehungen, Handlungsmuster, Intentionen, Narrative Wahrnehmungen und Werthaltungen der Akteure gestaltete und veränderte. Dabei werden auch Eigenheiten der Brandstiftung in bäuerlich-dörflichen und städtisch-industrialisierten Kontexten herausgearbeitet. Zudem wird eine Brücke zur Geschichte des Hauses geschlagen, indem sich ein Kapitel speziell mit den Funktionen des Hauses als Verkörperung von Menschen und als Akteur im Bourdieu‘schen Sinn einer ‚strukturierenden Struktur‘ beschäftigt.
Die Untersuchung der räumlichen und zeitlichen Verteilung hat ergeben, dass die Brandstiftungsdelinquenz in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, aber auch während der Hochkonjunktur zwischen 1890 und 1910, zunahm. Dabei verlagerte sich die Mehrheit der Fälle im Verlauf des Untersuchungszeitraums von dörflich-bäuerlichen zu städtisch-industrialisierten Kontexten. Infolge von Industrialisierung und Verstädterung gab es weniger ländliche Brandstiftungen. Auf dem Land waren es vor allem Taglöhner und Knechte, welche sich an Meistern oder Arbeitskollegen im Verständnis einer älteren ‚moralischen Ökonomie‘ wegen Ehrverletzungen, Lohnstreitereien oder Dienstkündigungen rächten. Männer aus überwiegend ländlichen Unterschichten begingen zudem Brandstiftung aus Rache für die Einsperrung in der Strafanstalt Thorberg oder – was seltener der Fall war – um Versorgung im Gefängnis zu finden.
In der Stadt, wo angesichts des rasanten Wachstums die Mehrheit der Bevölkerung in Mietshäusern wohnte und bis in die 1930er-Jahre Wohnungsnot herrschte, gewannen derweil die Konfliktfelder Nachbarschaft und Mieterschaft an Bedeutung. Wohnungskündigungen, Nachbarschaftsstreitereien oder unbeaufsichtigte Kinder waren typische Ursachen für Brandstiftungen. Frauen begingen am ehesten Brandstiftung, um die eigene Wohnung oder Küche zu verteidigen, wobei es in Bern in Übereinstimmung mit der meisten bisherigen Forschung allgemein wenig weibliche Brandstifter gab.
Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert häuften sich zudem Brandstiftungen gegen Intimpartner und andere Familienangehörige von Tätern aus kleinbürgerlichem Milieu. Dahinter stand die zunehmende Verbreitung eines bürgerlichen Ideals der Kleinfamilie mit eigenem Heim, einer geschlechterspezifischen Rollenteilung in Ernährer und Hausfrau sowie einer strengen Erziehung der Kinder. Väter begingen Brandstiftung zur Verteidigung oder Wiederherstellung ihrer Position im Haus und des damit verknüpften gesellschaftlichen Ansehens, um sich zu trennen oder die Familie durch Versicherungsbetrug aus einer finanziellen Notlage zu retten. Auf der anderen Seite war das Legen von Feuer im eigenen Haus oftmals Ausdruck der Rebellion von Buben und jungen Männern gegen autoritäre Erzieher.
Die Intention des Versicherungsbetruges verfolgten neben Familienvätern vor allem Inhaberinnen und Inhaber von kleinen Geschäften, welche vom Wirtschaftswachstum in der Stadt zu profitieren versuchten. Hier wie auch bei einigen Arbeitsbrandstiftungen gab es Männer, die durch den Strukturwandel in Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe arbeitslos wurden und letztlich aus Enttäuschung und Wut die Brandstiftung begingen.
Die Untersuchung der Brandstiftungspraktiken und -narrative hat gezeigt, dass sich anhand der angezündeten Orte und Dinge Rückschlüsse auf das soziokulturelle Umfeld der Akteure ziehen lassen. Indem Arbeiten und Wohnen während der Industrialisierung mehr und mehr räumlich getrennt wurden, spielte sich auch Brandstiftung öfter in Wohnhäusern ab. Anstelle von Scheunen und Ställen, die in der bäuerlich-dörflichen Lebenswelt Ehre und Besitz repräsentierten, wurden Keller, Gänge, Estriche und Treppenhäuser, die mit ihren Türschwellen und Fenstern für die Aushandlung von privater und öffentlicher Sphäre hohen Symbolgehalt hatten, zu typischen Tatorten.

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