Überschwemmungen von 1868 in der Schweiz. Unmittelbare Reaktion und längerfristige Prävention mit näherer Betrachtung des Kantons Wallis

Nom de l'auteur
Stephanie
Summermatter
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Christian
Pfister
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2003/2004
Abstract

Ein extremes Naturereignis kann im gesellschaftlich genutzten Raum zur Katastrophe werden, wobei die Wahrnehmung durch die Betroffenen für deren Beurteilung ausschlaggebend ist. Betrachtet wird in der Arbeit deshalb nicht ein Ereignis an sich, sondern dessen Folgen auf karitativer und präventiver Ebene: Kann eine Katastrophe zu einem verbindenden Ereignis für eine Gesellschaft werden? Welchen Einfluss haben Katastrophen auf die Umsetzung von Präventivmassnahmen? Diese Fragen werden anhand der Überschwemmungen von 1868 in den Kantonen Graubünden, St. Gallen, Tessin, Uri und Wallis untersucht, welche 14 Mio. CHF Schaden forderten; 55 Menschen starben, mehr als 18’000 Personen waren betroffen.

 

Teil 1 überprüft, ob Spendensammlungen anlässlich von Naturkatastrophen integrationsfördernd wirken können. Nach den Überschwemmungen von 1852 fehlte im noch jungen Bundesstaat eine nationale Hilfsorganisation. Die Konflikte der Staatsgründung waren 1868 zwar nicht vergessen, aber soweit verarbeitet, dass ein gemeinsames Vorgehen möglich war. Eine eigens einberufene Konferenz von Kantonsdelegierten übertrug dem Bundesrat die verfassungsrechtlich fehlende Kompetenz, auf die Überschwemmungen zu reagieren. Dieser setzte ein Zentralhilfskomitee zur Organisation der Spendensammlungen und eine Kommission zur Schadenschätzung ein, womit die Hilfsorganisation von 1868 stark jener anlässlich der Überschwemmungen von 1834 glich.

 

Die Kantonsdelegierten diskutierten im April 1869 über die Verwendung der 3.6 Mio. CHF Spenden. Einige Kantone wollten damit Schutzbauten finanzieren, andere ausschliesslich die betroffenen Privatpersonen unterstützen: Prävention sei Aufgabe des Staates, nicht der Spender. Die gesamte Diskussion ist somit auch Teil der Entwicklung eines zentralisierten Wasserbauund Forstwesens der 1860er und 1870er Jahre. In einem Kompromiss einigte man sich auf eine „Wuhrmillion“ für Schutzbauten in den betroffenen Kantonen, während der Grossteil der Spenden direkt an die Betroffenen ging. Das gesamte Vorgehen zeugt von einem hohen Integrationsgrad. Allerdings handelte es sich nicht um einen wichtigen, umstrittenen Politikbereich mit langfristigen Konsequenzen. Bedeutender ist deshalb, dass 1868 erstmals das Bewältigungsmuster von 1834 wieder angewendet wurde. Zudem lässt das immense Interesse der Presse und die rege Beteiligung an den Sammlungen auf ein gewisses Mass an Solidarität mit den Betroffenen in der Schweizer Bevölkerung schliessen. So wurde das Gefühl gestärkt, Teil einer Nation zu sein, die auch in schlechten Zeiten zusammenhielt.

 

Ob Naturkatastrophen Lernprozesse anstossen und die Umsetzung von Innovationen fördern können, untersucht Teil 2. Der „Schweizerische Forstverein“ warnte in den 1850er und 1860er Jahren vor dem schlechten Zustand der Wildbäche und Gebirgswälder sowie den daraus resultierenden Gefahren und erarbeitete Massnahmen, die auf einheitliche kantonale Gesetze abzielten. Gleichzeitig subventionierte der Bund bereits grosse Flusskorrektionen.

 

Mit der Wuhrmillion folgten die Kantonsdelegierten 1869 dieser Entwicklung und unterstützten auch kleinere Schutzbauprojekte und Aufforstungen. 1871 entschied das Parlament zudem, mit jährlich 100’000 CHF aus der Bundeskasse einen Schutzbautenfond zu gründen, der unter der Bedingung einer ausreichenden kantonalen Forst- und Wasserbaugesetzgebung alle Kantone berücksichtigte. Damit verwirklichte der „Schweizerische Forstverein“ sein Ziel, durch Bundessubventionen Druck auf die entsprechenden kantonalen Gesetze auszuüben. Möglich war dies nur aufgrund der Überschwemmungen von 1868, deren politisches Potential auf Bundesebene dank der Vorarbeit des Forstvereins umgesetzt werden konnte. Die Entwicklung fand ihren vorläufigen Abschluss in einem neuen Verfassungsartikel, der dem Bundesrat 1874 die Oberaufsicht über das Forstwesen und den Wasserbau übertrug, und der verfassungsrechtlich die erste eidgenössische Forst- und Wasserbaugesetzgebung (1876/1877) ermöglichte. Nur 15 Jahre vorher galten diese Gesetze als reine Träumerei des „Schweizerischen Forstvereins“ – in den 1870er Jahren wurden sie zur politischen Realität.

 

Fazit: 1868 kann von nationaler Solidarität gesprochen werden. Die Schweizer Bevölkerung half grosszügig, und auch das Parlament zeigte sich mit dem Subventionsbeschluss von 1871 solidarisch. Die Ereignisse von 1868 haben dem Schweizer Volk zu einer Erinnerung verholfen, die noch Jahre später ein Gefühl der Verbundenheit hervorrufen konnte. Mit der ad hoc organisierten Hilfe wurde ein Weg beschritten, der sich in den folgenden Jahrzehnten zur eidgenössischen Routine in Katastrophenfällen entwickelte. Bezüglich Wasserbau und Forstwesen kann sogar von einer dauerhaften politischen Integration gesprochen werden, da 1868 Ausgangspunkt für die Zentralisierung der entsprechenden kantonalen Kompetenzen war.

 

Die These der Lernprozesse nach Krisen und Katastrophen muss dahingehend präzisiert werden, dass Katastrophen Lernprozesse nicht unbedingt auslösen; vielmehr können sie dazu genutzt werden, bestehenden Forderungen zur Durchsetzung zu verhelfen, die im Beispiel von 1868 durch den „Schweizerischen Forstverein“ vorbereitet worden waren.

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