Die Gosteli-Gespräche fanden 2025 an der Universität Basel in Kooperation mit dem Kolloquium Geschlechtergeschichte des Departements Geschichte statt. Im Zentrum der Veranstaltung stand die Arbeit an Begriffen. Diese stellen, wie CAROLINE ARNI (Basel) die Gespräche einleitete, einen guten Ausgangspunkt für historisches Denken dar, da sie historische Veränderungen aufzeigen. Die Beiträge jedes Panels stammten jeweils aus unterschiedlichen Epochen oder Disziplinen. Im Anschluss an die Inputreferate wurden die behandelten Begriffe im Gespräch interdisziplinär und epochenübergreifend vertieft.
Vor dem ersten Panel gewährte die Staatsarchivarin ESTHER BAUR (Basel) einen Einblick in die Karteikarten der Einwohnerkontrolle Basels aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese enthielten intime Beschreibungen des Aussehens und der Vergehen «gefährlicher Personen». Diese Einträge bieten eine reichhaltige Quelle für Historiker und Historikerinnen, da sie Personen der Unterschicht betreffen, die sonst unsichtbar geblieben wären.
Im ersten Panel bearbeiteten NADIA BRÜGGER (Zürich) und VALERIE MEYER (Basel) den Begriff «Autorinnen» anhand der Diskussionen um das Selbstverständnis und die Identität Schweizer Schriftstellerinnen aus den 1970er Jahren in einem männlich geprägten Tätigkeitsgebiet. Das erst 1971 eingeführte Frauenstimmrecht sei ein Grund, weshalb schreibende Frauen in der Schweiz nur zaghaft als Autorinnen anerkannt wurden. Als Frauen kämpften die Autorinnen mit schwierigen Produktionsbedingungen, was einige auch in ihren Texten thematisierten. Diese Texte wurden von feministischer Seite verschieden rezipiert: Manche verurteilten die Hervorhebung der in ihrem Verständnis stereotypischen Frauenthemen, andere schrieben den Texten eine Vorbildfunktion zu. Auch mittelalterliche Autorinnen waren laut SARINA TSCHACHTLI (Basel) mit sehr schwierigen Produktionsbedingungen konfrontiert. Sie kämpften ganz grundsätzlich um das Recht, schreiben zu dürfen. Die Mystik war eines der wenigen Genres, das für Frauen zugänglich war. Trotzdem mussten sich auch Mystikerinnen als schreibende Frauen rechtfertigen. Um die Akzeptanz ihrer Werke zu fördern, betonten sie ihre eigene Unmündigkeit. Da sich auch männliche Autoren dem Demuts-Topos stark bedienten, gliederten sich die Mystikerinnen in eine männliche Tradition ein und benutzten den Topos gleichzeitig, um zu zeigen, dass Gott für sie trotz ihrer weiblichen Schwäche und Unmündigkeit, diesen Weg ausgesucht hatte.
Das Panel zum Begriff «un/sichtbar» eröffneten JENNIFER BURRI (Basel) und AMOS KUSTER (Basel) mit der Präsentation ihres aktuellen Projekts zum Verband der Schweizerischen Hausfrauenvereine. Dem 1933 gegründeten Verband ging es um die Sichtbarkeitsmachung spezifischer Schwierigkeiten, denen Hausfrauen begegneten, z.B. Arbeitsunfällen, qualitativ minderwertigen Haushaltsprodukten und vor allem Preiserhöhungen essentieller Produkte. Aus diesem Grund riefen sie 1948 ein Institut für Hauswirtschaft und 1949 Prüfungsstellen ins Leben. Burri und Kuster ergänzten ihre Untersuchungen mit einer praxeologischen Herangehensweise und fokussierten ihre Analyse dabei auf die Basler Sektion des Verbands. Diese machte auf ihre Anliegen bei öffentlichen Festen z.B. mit einer Kaffeewirtschaft aufmerksam. PASCALE SCHREIBMÜLLER (Zürich) stellte die Sichtbarkeits- und Unsichtbarkeitsmachung von nichtlebensfähigen Kindern in den 1970er Jahren anhand eines Fallbeispiels vor. Durch die Visualisierungstechnik des Ultraschalls konnte die Nichtlebensfähigkeit eines Kindes schon im Mutterleib festgestellt werden. Für Schwangere, die den Tod ihres Kindes nicht körperlich spürten, entstand so eine Dissonanz zwischen Gefühl und Deutung des Ultraschallbilds. Während nichtlebensfähige Kinder auf dem Ultraschallgerät sichtbar gemacht wurden, wurden sie gleich nach der Fehlgeburt unsichtbar gemacht: Die Angehörigen durften sie nicht sehen und es wurden keine Fotos gemacht, die an ihre Existenz erinnert hätten. Aufgrund dieser Unsichtbarkeitsmachung wurde den Frauen der Status als Wöchnerin und Mutter abgesprochen.
RAFFAELLA SARTI (Urbino), eine der führenden Historikerinnen zur Geschichte von Dienst und Dienerschaft, thematisierte in der Keynote unter dem Titel Working at home, in the home, from home: a long term gendered perspective (Western Europe, 16th-21st. c.) das Arbeiten. Sie näherte sich dem Thema konzeptgeschichtlich und analysierte ausgehend von einer etymologischen Klärung des Arbeitsbegriffs die kulturellen Vorstellungen von Arbeit im Wandel. Das Haus stellte den Ausgangspunkt für Sartis Überlegungen dar. Es war in der frühen Neuzeit der primäre Arbeitsort. Während der Industrialisierung wurde die Arbeit immer mehr vom Haus getrennt. Diese Entwicklung wurde in Italien gefördert, indem Personen, die zu Hause Aufgaben gegen einen geringen Erlös erledigten, nicht mehr als Arbeitende klassifiziert werden sollten. Dies betraf vor allem Frauen.
Den zweiten Tag der Gosteli-Gespräche eröffnete das dritte Panel mit dem Titel «Krieg und Frieden» und schloss so an eine Thematik an, die auch angesichts aktueller geopolitischer Entwicklungen und der bislang wenig beachteten Geschlechterungleichheit im Kontext von Krieg, Frieden und Wehrpflicht an Relevanz gewinnt. Der Dialog bot die Gelegenheit, diesen Themenkomplex breiter, also über die gegenwärtigen politischen Kontexte und den westlichmodernen Exzeptionalismus hinaus zu diskutieren. CATHLEEN SARTI (Oxford) beleuchtete vormoderne Vorstellungen von Krieg und Geschlecht und zeigte, dass Krieg in der frühen Neuzeit von Frauen wie Männern als alltägliche Bedrohung erlebt wurde. Am Beispiel der Belagerung Magdeburgs während des Dreissigjährigen Kriegs illustrierte sie exemplarisch, wie Frauen, und darüber hinaus die gesamte Stadtbevölkerung, in kriegerische Handlungen aktiv eingebunden waren. Dabei betonte sie die Spannungen zwischen Geschlechternormen und historischer Lebenswirklichkeit. Daneben verwies sie auf weitere weibliche Aufgaben, wie die der Kriegsfinanzierung oder der Unterstützung an der Heimatfront. ALINE MÜLLER (Genf) analysierte die transnationale Frauenfriedensbewegung in Westeuropa in den 1970er und 1980er Jahren vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs und des NATO-Doppelbeschlusses von 1979. Die Proteste und Aktionen verbanden feministische und friedenspolitische Anliegen und schufen neue Räume für Austausch und politische Praxis. Die Referentin untersuchte insbesondere geschlechterspezifische Rhetorik und Bildsprache der Frauenfriedensbewegung anhand von Beispielen, mit der sich Aktivistinnen als rationale Gegenstimme zur männlich geprägten Aufrüstung präsentierten. Dafür seien häufig essentialistische Argumentationsmuster genutzt worden, die innerfeministische Debatten auslösten und reformorientierte Gegenpositionen provozierten.
Über 1000 Jahre überblickte das zweite Panel des Tages, das sich dem Begriff «intim» widmete. MARIA TRANTER (Basel) näherte sich diesem durch eine Analyse von Ehediskursen des früh- bis hochmittelalterlichen Englands. Anhand einer Begriffsanalyse des Lateinischen und Altenglischen zeigte Tranter, dass mit Begriffen wie intimus oder inwurde weniger sexuelle oder romantische, sondern vielmehr emotionale, freundschaftliche oder spirituell-geistliche Nähe zwischen Menschen oder zwischen Mensch und Gott ausgedrückt wurde. Auch konzeptuell unterscheide sich das früh- bis hochmittelalterliche Verständnis. Der Fokus lag primär auf Innerlichkeit, Räumlichkeit und innerer Einstellung. Zur Beschreibung der Nähe von Liebes- oder Paarbeziehungen wurde dagegen das Vokabular der Liebe verwendet. Intimität müsse meist zwischen den Zeilen erahnt werden, da sie verklausuliert und umschreibend dargestellt wurde. Interessanterweise erfolge die Übernahme der lateinischen Begrifflichkeiten in der Volkssprache erst ab dem 17. Jahrhundert. TOBIAS URECH (Basel) untersuchte den Begriff intim anhand der Beziehung von Cécile Lauber und Agnes Debrit-Vogel und zeigte, wie gleichgeschlechtliche Freundschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert erlebt und gedeutet wurden. Mit queerhistorischen Ansätzen betonte er die Ambiguität des Begriffs und kritisierte die Tendenz, intime Beziehungen vorschnell mit Sexualität in Verbindung zu bringen. Gleichzeitig stellte er diese Praxis zur Debatte und plädierte für ein offenes Verständnis von Nähe und Vertrautheit zwischen Menschen, auch jenseits binärer Geschlechtergrenzen oder sexueller Zuschreibungen. Der Brückenschlag gelang, da Intimität als historisch vielschichtiges Phänomen erkennbar wurde, das sich trotz seiner Vielschichtigkeit als Analysekategorie fruchtbar machen lässt.
Im abschliessenden Panel widmeten sich ANNA LEHNINGER (Zürich), DOLORES ZOÉ BERTSCHINGER (Bern) und JULIAN STOFFEL (Basel) dem Begriff «kollektiv» aus unterschiedlichen Perspektiven. Anna Lehninger eröffnete den Dialog mit einer kunsthistorischen Analyse des von Margarete Goetz gestalteten Jubiläumsalbum, das Marie Heim-Vögtlin 1899 zur Grundsteinlegung des Zürcher Frauenspitals und der Pflegerinnenschule überreicht wurde. Ausgehend vom Objekt rekonstruierte sie die Netzwerke der Unterstützerinnen und Unterstützer anhand von über 200 darin enthaltenen Unterschriften, identifizierte einzelne Akteurinnen und erschloss bisher verborgene Kontexte. Dolores Zoé Bertschinger näherte sich dem Begriff über ihre Arbeit zum Lexikon der Frau (1953/54) und erarbeitete vier unterschiedliche Kollektive: die Redaktion, die Autorinnen, die portraitierten Frauen sowie die Leserschaft. Zudem verwies sie auf gegenwärtige feministische Kollektive und definierte die feministische Kollektivität als fortwährenden Aushandlungsprozess. Den Kollektivbegriff im emanzipatorischen Milieu nach 1968 thematisierte Julian Stoffel in seiner Präsentation zur Frauenbefreiungsbewegung der 1970er Jahre. Kollektive, wie Kommunen oder Selbsterfahrungsgruppen, präsentierte er als Räume gemeinsamer Selbstreflexion und politischer Praxis. Anhand von Zeitzeuginnenberichten zeigte er das Zusammenspiel von Alltag, Reflexion und politischer Zielsetzung, ohne dabei innere Spannungen und Ambivalenzen auszublenden.
Abschliessend reflektierten Caroline Arni und SIMONA ISLER (Gosteli-Archiv) gemeinsam mit dem Plenum das Zusammenspiel von Begriffen, Epochen und Disziplinen. Im Fokus standen die Potenziale und Herausforderungen trans- und interdisziplinärer Forschung, das bewusste Überschreiten epochaler und methodischer Grenzen sowie die Suche nach einer zugleich präzisen und zugänglichen Sprache. Die Tagung bot etliche anregende Impulse zur Erweiterung der historischen Perspektiven sowie vielfältige Erkenntnisgewinne für die eigene wissenschaftliche Praxis genauso wie die Lehre und Vermittlung historischer Inhalte.
Programm
Donnerstag, 08. Mai 2025
Caroline Arni und Lina Gafner: Begrüssung
Esther Baur: «Frau stahl Kuh» - ein Aperçu zur Verwaltungssprache
Dialog I «Autorinnen»
Sarina Tschachtli, Nadia Brügger und Valerie Meyer, Chair: Caroline Arni
Dialog II «un/sichtbar»
Pascale Schreibmüller, Jennifer Burri und Amos Kuster, Chair: Simona Isler
Raffaella Sarti: Working at home, in the home, from home: a long term gendered perspective (Western Europe, 16th-21st c.)
Freitag, 09. Mai 2025
Dialog III «Krieg und Frieden»
Cathleen Sarti und Aline Müller, Chair: Jan Rüdiger
Dialog IV «intim»
Maria Tranter und Tobias Urech, Chair: Nadine Amsler
Dialog V «kollektiv»
Julian Stoffel, Anna Lehninger und Dolores Zoé Bertschinger, Chair: Lina Gafner
Abschluss