Panelbericht: Zur Präsenz des Ersten Weltkriegs in Geschichtskultur und Erinnerung: Lokale Differenzierungen eines globalen Gedenkens an den Krieg

Author of the report
Flurin Rageth, Universität Zürich
Zitierweise: Rageth, Flurin: Panelbericht: Zur Präsenz des Ersten Weltkriegs in Geschichtskultur und Erinnerung: Lokale Differenzierungen eines globalen Gedenkens an den Krieg, infoclio.ch Tagungsberichte, 2013. Online: infoclio.ch, <http://dx.doi.org/10.13098/infoclio.ch-tb-0046>, Stand:


Verantwortung: Konrad Kuhn
Referentinnen: Bärbel Kuhn / Waltraud Schreiber / Marcus Ventzke / Christina Spittel / Béatrice Ziegler

2014 jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Dem Zentenarium des „grossen Krieges“ geht ein veritabler memory boom (Jay Winter) voraus. Als aktuelles Aufmerksamkeitsobjekt wurde der Krieg auch von der Politik entdeckt. So laufen seit 2010 die Vorbereitungen für ein von Frankreich noch unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys initiiertes Projekt, das mit symbolstarkem Gestus am 28. Juni 2014 die europäischen Staats- und Regierungschefs in Sarajewo zusammenbringen will. Auf solche von Nationalstaaten inszenierte Gedenkfeiern, aber auch auf zivilgesellschaftliche Aktivitäten der Vergegenwärtigung des Kriegs verweist KONRAD KUHN in seinem einführenden Beitrag. Dem Titel der Panels entsprechend verortet Kuhn die formenreichen und heterogenen Praxen des Kriegsgedenkens im Konzept der „Geschichtskultur“ (Jörn Rüsen) und steckt damit den heuristischen Rahmen aus, in dem sich die folgenden Referate bewegen werden. Mit einem Parcours durch verschiedene Erinnerungskulturen sollen die immer noch stark von nationalen Ordnungsvorstellungen geprägten Gedenkpraktiken mit der Methode des Vergleichs in eine „fruchtbare Debatte“ treten, um die jeweiligen Besonderheiten, Ähnlichkeiten und Widersprüche dieser Erinnerungslandschaften deutlicher hervortreten zu lassen. Es geht auch darum, ein Sensorium für die vielfältigen Funktionen des geschichtskulturellen Umgangs mit dem Ersten Weltkrieg zu bekommen und Blicke auf von Macht und Politik besetzte Felder freizulegen. Ob sich neben den lokalen und nationalen Praktiken auch Formen globaler Erinnerungsstränge abzeichnen, passt als Frage zur thematischen Ausrichtung der Schweizerischen Geschichtstage, ist aber deswegen nicht einfacher zu beantworten. Ob die nationalen Erinnerungsdiskurse zum Ersten Weltkrieg somit globalen Trends folgen, bleibt als Frage auch nach der kurzen aber aufschlussreichen Schlussdiskussion offen.

Nationale Erinnerungsnarrative zum Ersten Weltkrieg weisen Kontinuitäten, Brüche und Komplexitäten auf. Dies betont CHRISTINA SPITTEL, die sich in ihrem Beitrag mit der australischen Erinnerungskultur befasst. Die Vielschichtigkeit des Gedenkens und den kreativen Umgang mit Erinnerung kann Spittel nachzeichnen, indem sie die Geschichte des wichtigsten Nationalfeiertages Australiens, dem Anzac Day, rekonstruiert: Der Anzac Day (25. April) erinnert an australische Kriegseinsätze in Europa und im Nahen Osten und rekurriert insbesondere auf die für australische Soldaten verheerende Gallipoli-Schlacht vom 25. April 1915. Als erinnerungskulturelle Chiffre bezeichnet Anzac[1] seither die australischen Soldaten sowie die Legende ihres heldenhaften Einsatzes. Obwohl der Anzac Day bereits 1927 zum nationalen Feiertag erklärt worden war, veränderten sich Präsenz und Funktion dieses Kriegsgedenkens im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder und gehörten vor den 1990er Jahren noch nicht zu einem staatlich koordinierten Programm. Neben der nationalen Bedeutung blieben auch globale Identitätsangebote lange präsent. Letztere, die sich auch in der Teilnahme Englands an den australischen Erinnerungspraktiken zeigten, wurden aber mit zunehmender Nationalisierung der Erinnerung aufgegeben. Heute ist die Anzac-Gedenkpraxis Staatsauftrag und Bürgerpflicht zugleich. Die staatlich organisierten Fahrten auf die türkische Halbinsel Gallipoli haben sich als quasi nationale Pilgerreisen etabliert und mobilisierten letztes Jahr fast 10'000 Australier.

Als zentraler Gedenkort der französischen Erinnerung an den Ersten Weltkrieg besitzt auch Verdun eine Geschichte, die lokale, nationale und internationale Bedeutungsebenen und entsprechende Repräsentationen kennt. BÄRBEL KUHN beginnt ihre Genealogie dieses lieu de mémoire mit dem Jahr 1956, als Frankreich die zentralen Erinnerungstage zu offiziellen und nationalen Ereignissen machte. In und mit Verdun appellierte damals Charles de Gaulle an die mit der Algerienkrise prekär gewordene nationale Einheit. Diese mit Gedenkfeiern in Verdun betriebene geschichtskulturelle Integrationspolitik ist ein immer wieder kehrendes Muster, das sich zuletzt 2006 zeigte, als nach den Unruhen und Emeuten mit dem Gedenken in Verdun abermals am nationalen Einheitsdiskurs angeknüpft wurde. Auch wurde 2006 den für Frankreich im Krieg gefallenen Muslimen ein eigenes Denkmal errichtet. Seit den 1960er Jahren waren die offiziellen Gedenkanlässe auch wiederholt Schauplatz deutsch-französischer Annäherung. Trotz der internationalen Konnotation und den 2009 durchgeführten Feierlichkeiten zum 25-jährigen Jubiläum des Deutsch-Französischen Gedenkens an den Ersten Weltkrieg (1984) ist Verdun eine vorab französische Angelegenheit geblieben. Gerade die durch Frankreich immer wieder bediente nationalpolitische Instrumentalisierung des Ortes verhindere eine Multinationalisierung der Gedenkpraxis mit zum Beispiel stärkeren Bezügen zu universalen Friedensdiskursen, so eine Schlussfolgerung von Bärbel Kuhn. Plurinationale Durchlässigkeiten der Erinnerungspraktiken zeigen sich gemäss Kuhn aber zunehmend auf regionaler, zivilgesellschaftlicher und touristischer Ebene, wo Erinnerungspraxis und Repräsentationsformen einen anderen, offeneren Funktionsmechanismus besitzen.

Geschichtspolitik ist auch Thema des Vortrages von BÉATRICE ZIEGLER. Sie zeigt, wie die offizielle Schweiz während der Geistigen Landesverteidigung mit ihrem auf nationale Kohäsion abzielenden Kulturprogramm auch den Ersten Weltkrieg vereinnahmte. Am Beispiel des Films Gilberte de Courgenay, der 1941 uraufgeführt und zu einem Publikumserfolg wurde, kann Ziegler demonstrieren, wie diese geschichtskulturelle Deutung des Ersten Weltkriegs und die offizielle Propagierung eines entsprechenden Geschichtsbildes zur Zeit des Zweiten Weltkriegs zentrale gemeinschaftsstiftende Funktionen erfüllte. Der Film mit seinen Figuren und Geschichten repräsentiert für die Zeit des Ersten Weltkriegs eine Schweiz, die im Vergleich zu den in den 1930er Jahren entwickelten historiographischen Narrativen mehrere Brüche aufweist. Zusammen mit Konrad Kuhn hat Ziegler diese bis heute dominanten Geschichtsnarrative zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkrieg herausgearbeitet.[2] Gemäss der Geschichtswissenschaft stand die Schweiz damals nicht nur vor kulturellen und sozialen Zerreissproben, sondern auch unmittelbar vor einer Revolution (Landesstreik 1918); neben der herausfordernden Neutralitätspolitik war vor allem die Armeeführung um die Person von General Ulrich Wille ein Problem. Der Film Gilberte de Courgenay zeigt nun aber eine Schweiz, die keine innergesellschaftlichen Spannungsmomente kennt oder in der sich alle andeutenden Problemlagen auflösen. Sowohl die Offiziere und Soldaten als auch die vom Film gezeichneten zivilgesellschaftlichen Figuren werden für die Zuschauer zu evidenten Vorbildern, die ihre persönlichen Bedürfnisse dem Wohl des Landes und der Gemeinschaft unterordnen. Weil der Film aber nicht nur neue Geschichtsbilder und damit eine neue Schweiz erfindet, sondern auch Kontinuitätslinien zur Vergangenheit markiert (Grenzbesetzung als nationales Ereignis; Geschlechterrollen), spricht Ziegler nicht nur von einer filmmedial inszenierten „invention of tradition“ (Eric Hobsbwam), sondern betont ebenso die „continuation of tradition.“

Dass ein Jahr vor den einsetzenden Gedenkfeiern zum Ersten Weltkrieg die europäischen Geschichtskulturen nach wie vor von nationalgeschichtlich geprägten Rhythmen und Ordnungsmustern dominiert werden, ist auch die Beobachtung von MARCUS VENTZKE. Diese national-räumliche Segmentierung des Gedenkens mit einer fehlenden transnationalen Ebene der Erinnerungsnarrative führt er am Beispiel der unzähligen nationalen Soldatenfriedhöfe und Kriegsdenkmäler auf den belgischen Flanders Fields vor. Um einer wie jüngst in Ungarn zu beobachtenden und auch anderswo virulent sich abzeichnenden Renationalisierung der Gesellschaft entgegenzutreten, müssten auch die Erinnerungskulturen mit ihren sie hervorbringenden Diskursen neue Formen und Inhalte annehmen. Vor allem auch deshalb, wie Ventzke am Beispiel Ungarns zeigt, weil die Renationalisierung stark mit Geschichtsnarrativen operiert. Doch wie könnte eine europäische Erinnerung an den Ersten Weltkrieg auf nationenübergreifender Grundlage aussehen? Mit Blick auf den Geschichtsunterricht als Teil und wichtiger Ort der nationalen Geschichtskultur referiert Ventzke von einem eigenen belgischen Schulbuchprojekt, das mit neuen geschichtskulturellen Perspektiven die SchülerInnen vor allem anderen für den Konstruktionscharakter jeder Geschichte und Erzählung zu sensibilisieren versucht. „Den roten Faden einer Narration deutlich machen und ihn zur Diskussion stellen“, so das Grundprinzip der vom Institut für digitales Lernen konzipierten Unterrichts- und Schulbuchidee. Epistemologische Prinzipien wie Perspektivität, Partialität oder Selektivität werden zu historischen Kompetenzwerten erklärt. So sollen die SchülerInnen ein gesellschaftskritisches Analyse-Instrumentarium entwickeln, das sie mitunter zur Dekonstruktion von einseitig nationalen und politisch instrumentalisierten Geschichtsnarrativen befähigt. Der Geschichtsunterricht als Laboratorium von Widerstandsdiskursen – ein fürwahr glänzender und hoffnungsvoller Entwurf.

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[1] ANZAC war zunächst ein Akronym, das Lieferungen an den Australien and New ZealandArmy Corps markierte.
[2] Kohn, Konrad J., Ziegler, Béatrice: Dominantes Narrativ und drängende Forschungsfragen. Zur Geschichte der Schweiz im Ersten Weltkriegn, in: traverse 2011/3, S. 123-141.


Panelübersicht:

Christina Spittel: Nationaler Erinnerungsort Nr. 1? Australische Weltkriegserinnerung zwischen Empire, Nation und der Welt

Bärbel Kuhn: Verdun 1916-2011 – Ereignis und Erinnerungspolitik

Béatrice Ziegler: Folgen der Indienstnahme der „Schweiz während des Ersten Weltkrieges“ durch die Geistige Landesverteidigung: Der Film Gilberte de Courgenay

Marcus Ventzke / Waltraud Schreiber: Im Geschichtsunterricht Perspektivierung und Vergleiche nutzen, um die Schüler zu einer forschungskonformen Auseinandersetzung mit Geschichte anzuregen. Das Beispiel Erster Weltkrieg.

Evènement
3. Schweizerische Geschichtstage 2013
Organisé par
Departement für Historische Wissenschaften der Universität Freiburg / Schweizerische Gesellschaft für Geschichte (SGG)
Date de l'événement
Lieu

Fribourg

Report type
Conference