Erziehungsanstalten unter Beschuss“. Heimkritik und „Heimkampagne“ in den 70er Jahren

Nom de l'auteur
Renate
Schär
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Brigitte
Studer
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2006/2007
Abstract

Am 28. September 1971 demonstrierten Aktivistinnen und Aktivisten der Gruppierung „Heimkampagne“ vor der Arbeitserziehungsanstalt Uitikon im Kanton Zürich gegen deren repressive Erziehungsmethoden. Anschliessend verhalfen sie 17 jugendlichen Heiminsassen zur Flucht. Die zweiwöchige Flucht der Heimzöglinge, die durch die ganze Schweiz führte, geriet zu einem der grössten Medienereignisse des Jahres. Die Aktion war Höhepunkt einer Kampagne, in deren Mittelpunkt die Kritik an der Einweisung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Erziehungsanstalten und an deren Praktiken stand.

 

Die Lizentiatsarbeit untersucht die Heimkritik Anfang der 1970er Jahre und fokussiert dabei auf die ausserparlamentarische Protestgruppierung Heimkampagne. Diese Aktionsgruppe verstand sich als Basisgruppe der Autonomen Republik Bunker, ihrerseits eine der aktivsten und radikalsten Gruppen der Zürcher 68er-Bewegung, die sich für jugendliche Freiräume in der Gesellschaft einsetzte. Die Kampagne ist als Teil der herrschafts- und institutionenkritischen 68er-Bewegung zu sehen. In der Arbeit werden die Entwicklung dieser Kampagne, ihre Rezeption und ihre Wirkung erforscht.

 

Die Arbeit stützt sich auf Archivalien aus dem Schweizerischen Sozialarchiv und dem Staatsarchiv Zürich. Die Bestände umfassen insbesondere Flugblätter, Protokolle von Mitgliederversammlungen, Berichte über Aktionen und Informationen zu Erziehungsheimen. Nebst der Bearbeitung schriftlicher Quellen wurden auch Gespräche mit Zeitzeuginnen der damaligen Bewegung einbezogen.

 

Die Lizentiatsarbeit zeigt auf, dass die Heimkampagne nicht isoliert agierte, sondern Teil einer internationalen Bewegung war, die sich für die Demokratisierung in Institutionen wie Gefängnissen Heimen oder psychiatrischen Kliniken engagierte. Auf ideologischer Ebene handelte es sich um die von Erving Goffman und Michel Foucault geprägte intellektuelle Kritik an den geschlossenen „totalen Institutionen“ der „Disziplinargesellschaft“, auf praktischer Ebene um die Bewegung der Antipsychiatrie in Italien sowie um die Heimkampagne von 1969 in Deutschland, die als direktes Vorbild für die gleichlautende Deutschschweizer Kampagne diente. Des Weiteren werden in der Arbeit die Anfänge der Heimkritik in der Schweiz beschrieben, die bereits in den 1920er Jahren dank dem Berner Schriftsteller C.A. Loosli einsetzte. Eine effektive Reform des Anstaltswesens zeitigte jedoch erst die kritische Bewegung der 1970er Jahre. Die 68er-Bewegung schuf dabei den geeigneten gesellschaftlichen Resonanzboden für die Wiederaufnahme dieser Thematik.

 

Im Hauptteil der Arbeit wird die Gründung der Heimkampagne innerhalb der Zürcher Jugendbewegung rekonstruiert sowie die Motive und Ziele der Aktivisten und Aktivistinnen dargelegt. Die Arbeit analysiert teils mit Konzepten der Bewegungsforschung die Aktionsstrategien und die Rolle der Öffentlichkeitsarbeit, aber vor allem die in ihren Formen zeittypischen Aktionen. Deren Bandbreite reichte von provokatorischen Handlungen, wie die Massenflucht aus der Anstalt Uitikon, über Demonstrationen, Teach-Ins und Go-Ins bis zur Betreuung von Zöglingen.

 

Analysiert wird zudem die Rolle der Heimkampagne innerhalb der Heimkritikdebatte der 1970er Jahre. Trotz ihrer kurzen Existenz – die Heimkampagne löste sich nach knapp zwei Jahren auf – trug sie entscheidend zur Debatte bei, die schrittweise zu Reformen in der Heimerziehung und im Jugendstrafvollzug führte. Zwar war die Heimkampagne nicht Auslöser der Heimkritik, doch funktionierte sie als Katalysator. Mit medienwirksamen Aktionen machte sie das Thema einer breitern Öffentlichkeit bekannt. Der erzeugte Druck beschleunigte die Reformen in den Erziehungsanstalten. Vermehrt wurden Alternativen wie Familienplatzierungen oder betreute Wohngemeinschaften in Betracht gezogen. Das Heimwesen setzte auf Professionalisierung des Personals und verbesserte dessen Ausbildung in Richtung Sozialpädagogik, was die Abkehr von rein autoritären Erziehungskonzepten bedeutete. Die Arbeit wirft nicht nur ein Schlaglicht auf eine Aktivistengruppe und ein Tätigkeitsfeld der 68er-Bewegung in der Schweiz, sondern auch auf ein Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre allgemeinere Institutionenkritik und eine entsprechende Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenz im gesellschaftlichen

Umgang mit Normabweichungen.

 

Resultate dieser Forschung erscheinen als Aufsatz in: Hebeisen, Erika / Joris, Elisabeth / Zimmermann, Angela (Hg.): Zürich 68. Kollektive Aufbrüche ins Ungewisse, Baden 2008.

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