Wider Folter und Willkür. Die Strafrechtsdebatte in Bern im 18. Jahrhundert im Spannungsfeld zwischen Reform und Machterhaltung

Nom de l'auteur
Sabine
Hirsbrunner
Type de travail
Mémoire de licence
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
André
Holenstein
Institution
Historisches Institut
Lieu
Bern
Année
2006/2007
Abstract

Im Jahre 1764 veröffentlichte der italienische Jurist Cesare Beccaria sein Werk „Dei delitti e delle pene“, das in kurzer und prägnanter Form seine Vorstellungen über ein humaneres Strafrecht zusammenfasste. Der Veröffentlichung folgte eine bisher nicht gekannte Publikationswelle zum Thema Strafrechtsreform. Philosophen und Juristen im gesamten europäischen Raum setzten sich mit der Thematik auseinander – im Stadtstaat Bern trugen vorerst die aufklärerischen Gesellschaften, insbesondere die Oekonomische Gesellschaft, den Diskurs über Strafrechtsreform und Humanisierung des Strafvollzugs. Die Lizentiatsarbeit beschäftigt sich mit diesem Diskurs, der sich in den 1720er Jahren ein erstes Mal manifestierte, ab Mitte der 1760er Jahre stark an Intensität gewann und schliesslich mit dem Einfall der französischen Armee 1798 in die Alte Eidgenossenschaft ein abruptes Ende fand.

 

Der erste Teil der Arbeit ist den Strukturen und Akteuren im Stadtstaat Bern gewidmet. Die zunehmend von Erfolg gekrönten Expansionsbemühungen (1536 eroberte Bern die Waadt) brachten einen immer grösseren Verwaltungsaufwand mit sich und die Berner mussten zwangsläufig die Regierungsstrukturen anpassen, um den Umfang der anfallenden Arbeiten noch erledigen zu können. Insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert riefen der Grosse und der Kleine Rat deshalb verschiedene Kommissionen ins Leben, welche die Geschäfte vorberaten und Empfehlungen aussprechen sollten. Damit erhielten die Kommissionen grossen Einfluss auf den Entscheid der Räte. In der Arbeit konnte gezeigt werden, dass sich die Räte in der Thematik der Strafrechtsreform oft den Empfehlungen der Kommissionen anschlossen. Mit ein Grund dafür dürfte gewesen sein, dass die Räte auf die kompetentesten Männer in ihren Reihen zurückgriffen. So sass in der Regel der jeweilige Professor der Rechte an der Hohen Schule in der Reformkommission. Aufgrund eines Mitgliederverzeichnisses der Oekonomischen Gesellschaft konnte zudem in dem ersten Teil der Arbeit nachgewiesen werden, dass eine personelle Überschneidung der Oekonomischen Gesellschaft und der Räte vorhanden war. Damit war gegeben, dass die Strafreformdiskussion, die insbesondere ab 1777 in der Oekonomischen Gesellschaft sehr intensiv geführt wurde, auch in die Räte getragen wurde. Allerdings wurde diese personelle Überschneidung zu einer Hypothek für die Strafrechtsreform, denn die Träger der aufgeklärten Gesellschaft waren praktisch ausschliesslich Mitglieder regimentsfähiger Familien und damit spätere Träger des bernischen Staates. Die Neuerungen im Strafrecht aber zielten auf eine Trennung von politischer und judikativer Gewalt hin und damit auf eine Machtverminderung der regierenden Patrizier. Für einen solchen Einschnitt in die bernische Staatsverfassung war Ausgangs des 18. Jahrhunderts in Bern keine Mehrheit vorhanden.

 

Im zweiten Teil wird gezeigt, wie sich der Strafreformdiskurs im nahen Ausland entwickelte. Schriften von führenden Aufklärern wie Charles Secondat de Montesquieu, Voltaire, Jean-Jacques Rousseau, Cesare Beccaria und Joseph von Sonnenfels wurden analysiert und es zeigte sich, dass deren prioritäre Forderungen bezüglich Strafrechtsreform Grundlage für den Diskurs in Bern darstellten. Dazu gehörten die Idee des Gesellschaftsvertrags, die Forderung nach Abschaffung von grausamen Körper- und Todesstrafen sowie nach Proportionalität zwischen Verbrechen und Strafen.

 

Im dritten und vierten Teil schliesslich werden die verschiedenen Gesetzesprojekte erläutert, die in Bern angegangen wurden. Trotz der intensiven Rezeption der Strafkritiker wurde eine einschneidende Reform erst in den 1780er Jahren in den Räten ein Thema. Auslöser dafür war ein Preisausschreiben, das die Oekonomische Gesellschaft 1777 veranstaltete. Jedermann war aufgefordert, seine Ideen für einen möglichst „vollständigen und ausführlichen Gesetzesplan“ einzuschicken. Die prämierte Arbeit veranschaulichte, wie eine mögliche Strafrechtsreform in Bern hätte aussehen können. Die Oekonomische Gesellschaft zeichnete die Arbeit der beiden sächsischen Juristen Hanns Ernst von Globig und Georg Huster aus, die für eine Abschaffung der Folter und eine Einschränkung der Todesstrafe plädierten. Anders als andere Autoren sahen die beiden jedoch in der Stärkung der regierenden Staatsmacht den Schlüssel zu einem funktionierenden Strafsystem. Dafür entwarfen sie eine neue Verbrechenshierarchie. Der Staat und seine Beamten waren zum wertvollsten Gut geworden, das es auch innerhalb des Strafrechts zu schützen galt. Verbrechen gegen Staat und Staatsdiener waren an die erste Stelle in der Verbrechenshierarchie getreten. Dort, wo im Mittelalter Verbrechen gegen die Religion gestanden hatten.

 

In den Jahren nach dem Preisausschreiben der Oekonomischen Gesellschaft wurde auf Geheisse der Räte eine Fülle von Gutachten, Projektskizzen und Arbeiten zum Thema Strafrechtreform verfasst. Zwischen 1783 und 1797 waren zu jeder Zeit Kommissionen mit dem Reformprojekt beschäftigt, allerdings wurde nur eine Minireform auch tatsächlich realisiert: 1785 schränkten die Räte die Anwendung der Folter ein, für ein Verbot fehlte die Mehrheit. In den Folgejahren scheiterten weitere Versuche die Gerichtssatzung aus dem Jahr 1761 zu revidieren.

 

Der Strafrechtsdiskurs Ende des 18. Jahrhunderts in Bern zeigte, dass die Oekonomen zwar gegenüber der Reform aufgeschlossener waren als die Räte. Wie die Untersuchung aber belegte, sassen die Oekonomen grösstenteils selber entweder im Grossen oder im Kleinen Rat, waren aber dort nicht in der Lage, die Reformideen durchzubringen, respektive entscheidend mitzuprägen. Das Spannungsfeld, in dem sich die Akteure befanden, wirkte sich also in jedem Fall negativ auf die Reformen aus.

Accès au document

Bibliothèque

Les travaux académiques sont déposés à la bibliothèque de l'université concernée. Cherchez le travail dans le catalogue collectif des bibliothèques suisses