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Mit meinem Vorhaben möchte ich einen Beitrag zur Erforschung der Wissenschaftskultur des Faches Geschichte im Zeitraum von 1870 bis 1914 leisten. Anhand von Fallstudien zu einzelnen institutionellen Kontexten im deutschsprachigen Raum soll der Frage nachgegangen werden, welche wissenschaftliche Praxis das geschichtswissenschaftliche Wissen im Untersuchungszeitraum hervorbrachte und mit welchen institutionellen Entwicklungen diese Praxis einherging. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei das geschichtswissenschaftlich zentrale Erkenntnisobjekt "Quelle", das auf die impliziten theoretischen Vorannahmen hin untersucht werden soll, die es konstituieren.
Der Aufstieg der Geschichte zu einer Bildungs- und Orientierungsmacht im 19. Jahrhundert vollzog sich auf der Grundlage eines Verständnisses von Geschichte als Wissenschaft, die sich über empirisch fundierte Forschungsmethoden, die einen regelgeleiteten Quellenbezug mit interpretatorischen Verfahren verbinden, der Erkenntnis des Gewesenen nähern sollte. Im Rahmen des Historismus verlief dieser Objektivierungsprozess nicht über explizite Theoriebezüge, sondern über die Herstellung eines Netzes aus Quellenverweisen. Diese scheinbar atheoretische Vorgehensweise von Geschichtswissenschaft hat dazu geführt, dass seit Hayden Whites Arbeiten historiographische Texte oft auf die rhetorischen Strategien hin befragt werden, die ihnen zugrundeliegen. Die vordergründige Theorieabstinenz, die für die historistische Geschichtswissenschaft geradezu definitorisch wurde, ist aber nicht nur voraussetzungsreich in Bezug auf die literarischen Strategien und die mitlaufenden Leitvorstellungen über historische Entwicklung, Staat oder Nation. Sie ist theoriegeladen in bezug auf den Erkenntniswert, der dem Quellenmaterial zugesprochen wurde. Das Erkenntnisobjekt "Quelle" war das Ergebnis eines spezifisch geschichtswissenschaftlichen "Quellenblicks", der ebenso eingeübt werden musste wie etwa die Wahrnehmung statistischer Tatsachen. Meine Untersuchung geht von der Arbeitshypothese aus, dass in diesem Konstruktionsprozess Theorien und Klassifikationen wirksam waren, die gerade durch ihr Implizitbleiben den Status geschichtswissenschaftlicher Aussagen bestärkten. Die Untersuchung der Instrumente der Quellenproduktion – Editionsprojekte, Regestenwerke, Quellenreproduktionen, hilfswissenschaftliche Techniken – und der Institutionender Vermittlung des Quellenblicks soll damit zum Verständnis der bekanntermassen weitgehend (staats- und macht-)legitimatorischen Wirkung der Geschichtswissenschaft im Untersuchungszeitraum beitragen.
Vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen und institutionellen Innovationen in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollen einzelne geschichtswissenschaftliche Institutionen – Universitätsseminare, historische Gesellschaften und Forschungsinstitutionen – untersucht werden. Sie können als Agenturen des Quellenblicks verstanden werden, die ein abgegrenztes disziplinäres Feld hervorbrachten, die Ressourcenzugänge der HistorikerInnen regulierten und Arbeitsweisen etablierten. In einem weiteren Schritt sollen die materiellen und epistemischen Praktiken der Quellenproduktion anhand der Anwendung von neuen Reproduktionstechniken und der heuristischen Operationen der Quellensammlung und -einordnung untersucht werden. Am Beispiel von institutionellen Schliessungsprozessen und sozialen Situationen wie historischen Gedenkfeiern soll schliesslich der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Quellenblick der Geschichtswissenschaft Bestandteil eines „boundary work“ war, in dessen Verlauf eine Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Forschung aus einer allgemeineren Geschichtskultur erfolgte.
Aus dem Interesse an der Verbreitung und alltäglichen Aneignung des quellenorientierten Erkenntnisdispositivs der Geschichtswissenschaft motiviert sich die Wahl des Untersuchungszeitraums, in dessen Verlauf die quellenbasierten Arbeitsweisen in Editionsprojekten und im Seminarunterricht grosse Verbreitung fanden. Die Fragestellung soll anhand von Fallstudien zu geschichtswissenschaftlichen Institutionen in der Schweiz (universitäre Geschichtswissenschaft in Zürich, Allgemeine geschichtforschende Gesellschaft der Schweiz), in Österreich (Universität Wien, Institut für Österreichische Geschichtsforschung) und Deutschland (Editionsprojekt der Monumenta Germaniae Historica) bearbeitet werden.
Die Schärfung des Quellenblicks. Die geschichtswissenschaftliche Forschungspraxis in Wien und Zürich (1840-1914)
Type de travail
Thèse
Statut
abgeschlossen/terminé
Nom du professeur
Prof.
Jakob
Tanner
Institution
Neuzeit
Lieu
Zürich
Année
2005/2006
Abstract